Naumburger Tageblatt: Opfermythos setzt sich über Opfer hinweg

Kriegsschuld

Opfermythos setzt sich über Opfer hinweg

Dresden steht wichtige Diskussion zu seiner Geschichte und Gegenwart bevor

VON ANDREAS MONTAG, 18.02.09, 18:55h, aktualisiert 19.02.09, 08:39h

Teilnehmer eines Demonstrationszuges unter dem Motto «Geh Denken!» stehen am vergangenen Samstag in der Innenstadt von Dresden auf dem Theaterplatz zur Abschlusskundgebung. (FOTO: DDP)
Teilnehmer eines Demonstrationszuges unter dem Motto «Geh Denken!» stehen am vergangenen Samstag in der Innenstadt von Dresden auf dem Theaterplatz zur Abschlusskundgebung. (FOTO: DDP)

HALLE/DRESDEN/MZ Der schwer verletzte Gewerkschafter, den Neonazis am Wochenende zusammengeschlagen hatten, ist außer Lebensgefahr. Und in der barocken Dresdner Altstadt bestimmen wieder knipsende Touristen das Straßenbild. Alles in Ordnung also, das Leben geht weiter. Bis zum nächsten Mal, steht zu befürchten – falls das Bürgertum der Stadt und seine politischen Vertreter nicht über ihren Schatten springen und sich auf eine Grundsatzdiskussion einlassen, die kompliziert und garantiert nicht schmerzfrei ist.

Aber sie ist eben auch unumgänglich. Seit Jahren zieht es die von der NPD unterstützten rechtsradikalen Kameraden zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens durch alliierte Bomber in dunklen Scharen in die sächsische Metropole. Man muss sich schon fragen dürfen: weshalb gerade dorthin so massiv? Immerhin kämen doch auch schwer kriegsbeschädigte Städte wie Dessau, Hamburg oder Köln und selbst die Bundeshauptstadt Berlin für derlei abscheuliche Aufmärsche in Betracht.

Gewisse Unschärfe

Nun ist es gewiss nicht so, dass die Dresdner die Nazis eingeladen hätten. Und keinem, der nicht nur zum Gedenken an die Opfer, sondern auch gegen die Präsenz dieser ungebetenen „Trauergäste“ auf die Straße gegangen ist, soll zu nahe getreten werden. Aber es scheint doch offenbar so zu sein, dass in Dresden (und sicher auch anderswo in Deutschland) mit fortschreitender Zeit eine gewisse Unschärfe der historischen Wahrnehmung zumindest toleriert, wenn nicht sogar kultiviert und schließlich in den Kanon der feststehenden Tatsachen aufgenommen worden ist.

Die Rede ist vom Opfermythos, der sich über Generationen vererbt hat und die deutsche Kriegsschuld zwar nicht in Abrede stellt, aber gewissermaßen als ein separates, das Eigene nicht betreffendes Phänomen behandelt. Natürlich sind die strategisch bedeutungslosen Luftangriffe zu verurteilen. Die Verantwortlichen zielten allein auf die Demoralisierung der Bevölkerung und nahmen den Tod von Tausenden Zivilisten billigend in Kauf.

„Persilschein“ hilft nicht

Aber das Gegenteil der These von einer „Kollektivschuld“, also ein „Persilschein“ für die Deutschen, bringt die Wahrheit – und damit das Verständnis unserer Geschichte nicht näher, im Gegenteil. Die unterschwellig zirkulierende Behauptung nämlich, alle seien im Grunde gut, nur Hitler und seine bösen Parteimänner böse gewesen, man selbst und die Vorfahren hätten immer Bach und Mozart gehört und niemals etwas gegen Juden gehabt – sie hilft nicht weiter, weil sie falsch ist. Allenfalls den Neonazis nützt eine solche Argumentation, auf die sie gern ihr vorgeschobenes Mitgefühl satteln. Und sie werden, so ungern man die unappetitlichen Gesellen auf den Straßen trommeln und brüllen hört, insgeheim salonfähig in bürgerlichen Stuben.

Es reicht nicht, sich von den Unbelehrbaren zu distanzieren, die man nicht in der Stadt haben will – es wird unumgänglich sein, das Vergangene nicht als „abgelegt“ zu deklarieren. In welcher Relation sollte denn sonst die Trauer um die Toten von Dresden stehen, wenn die Toten von Coventry und Rotterdam, die deportierten und ermordeten Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Sinti und Homosexuellen aus dem Erinnerungskontext gestrichen würden? Niemand soll deshalb weniger trauern dürfen, keiner gebückt gehen. Aber zum Aufrechten gehört auch die Kraft, den Schmerz, der anderen zugefügt worden ist, mit zu tragen.
Quelle:
http://www.naumburger-tageblatt.de/ntb/ContentServer?pagename=ntb/page&atype=ksArtikel&aid=1234941155883&openMenu=1013083806110&calledPageId=1013083806110&listid=1018881583480

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