Kundgebung und Demonstration in Gedenken an Marwa El-Sherbini am 1. Juli

Am 1. Juli 2010 jährt sich zum ersten Mal der Todestag von Marwa El-Sherbini, die im Dresdner Landgericht von einem antimuslimischen Rassisten erstochen worden war. Vorangegangen waren Beleidigungen des NPD-Symphatisanten auf einem Spielplatz im Jahr 2008 gegen Marwa. Er hatte sie aufgrund ihres Kopftuches als „Islamistin“ und „Terroristin“ beschimpft. Ein Augenzeuge auf dem Spielplatz rief die Polizei, die Anzeige erstattete. Als der Täter deswegen einen Strafbefehl zugestellt bekam, unterstrich und begründete er seine Haltung – blanken Islamhass nennt es die TAZ – in einem Einspruch gegen den Strafbefehl.

In der Öffentlichkeit wurde der Mord als erster antimuslimischer Übergriff mit Todesfolge wahrgenommen. Häufig ist in diesem Zusammenhang auch von „Islamphobie“ oder „Antiislamismus“ die Rede. Letztere Begriffe sind jedoch weniger zur Beschreibung des Problems geeignet. Phobie wirkt verharmlosend und Antiislamismus wird auch von Muslimen verwendet, die sich gegen Islamismus positionieren.

Die Details des Mordes im Gerichtssaal machen die Tat nur noch erschütternder. So hat der dreijährige Sohn der schwangeren Marwa den Messerstichen auf seine Mutter zusehen müssen und ein herbeigerufener Polizist hat fälschlicherweise den Ehemann, der versuchte sie zu schützen, angeschossen. Hier stellt sich die Frage, warum der Polizist gerade ihn anschoss, der mit seinem südländischen Aussehen am ehesten dem Klischee des Ausländers entsprach? Die interne Ermittlung gegen den Polizisten wurde eingestellt und wer wie Dr. Sabine Schiffer immer noch nicht rassistische Motive des Polizisten ausschließt muss mit Klagen und Morddrohungen rechnen.

Eine unrühmliche Rolle spielte bei dem Fall auch die Dresdner Öffentlichkeit und die deutsche Medienlandschaft. Am Tag selbst wurde es nur als heftige Auseinandersetzung mit Todesfolge im Gericht in den deutschen Medien rezipiert. Schon am nächsten Tag wandte man sich wieder anderen Schlagzeilen zu und wollte zum business as usual übergehen. Erst nachdem in ägyptischen Medien über den Fall berichtet wurde und entsprechende Empörung in der islamischen Welt außenpolitische Verwicklungen andeutete, nahmen die Medien und die deutschen Politiker den Fall ernst und bemühten sich um Schadensbegrenzung. Einem von namhaften Dresdner Persönlichkeiten unterstützen Aufruf zu einer Gedenkkundgebung folgten einige Tausend Menschen, was für Dresdner Verhältnisse eine recht hohe Anteilnahme darstellt. Dennoch waren Beobachter mit westdeutschem Migrationshintergrund wie der bekennende FDP-Wähler Professor Wolfgang Donsbach von der TU Dresden aus ihrer Heimat stärkere Reaktionen gewöhnt, was ihn dazu veranlasste einen deutlichen und wie er hoffte aufrüttelnden offenen Brief an die Einwohner Dresdens zu schreiben. Diese hielten jedoch oft lieber entgegen, dass der Täter aus Russland kam, und demnach mit Deutschland und erst recht Dresden gar nichts zu tun hätte. Die NPD-Anhängerschaft des Täters, seine starke Identifikation mit Deutschland sowie seine antimuslimischen Äußerungen kamen erst nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit und wurden mit dem abflauenden Medieninteresse immer weniger wahr genommen.

Am Ende steht die Verurteilung des Täters, Freisprüche für die Richter, die im Vorfeld trotz deutlicher Anzeichen den Ernst der Lage nicht erkannten und ein Freispruch von rassistisch motivierten Verhalten für den Polizisten, der in einer unklaren Situation vorsorglich erst einmal „den Südländer“ über den Haufen schoss. Der Hintergrund der Tat wurde weitgehend verdrängt und über die gesellschaftlichen Ursachen wird schon lange nicht mehr diskutiert. Es liegt auch an uns, dass der Fall nicht einfach vergessen und die spätestens deshalb notwendigen gesellschaftlichen Debatten um antimuslimische Tendenzen in Deutschland und Europa nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Deshalb rufen wir für den 1. Juli zum öffentlichen Gedenken an Marwa El-Sherbini auf.

Am 1. Juli 2010 findet um 17 Uhr auf dem Platz vor dem Rathaus eine Gedenkkundgebung statt. Anschließend wird es um 18 Uhr eine antifaschistische Demonstration geben. Im folgenden die Aufrufe dafür.


Aufruf zur antifaschistischen Demonstration nach der Marwa-Gedenkkundgebung:

Das Problem heißt Rassismus!

Im
August 2008 verweigert der Bekenntnisdeutsche Alex W. dem Sohn der
Ägypterin Marwa El Sherbini den Platz auf der Schaukel eines Dresdner
Spielplatzes. Dabei beschimpft er sie als „Schlampe“, „Islamistin“ und
„Terroristin“. Diese Beschimpfungen, wohl aufgrund ihres für Alex W.
zu „uneuropäischen“ Aussehens und ihres Kopftuches,  wollte sich die
junge Frau nicht gefallen lassen und erstattete Anzeige gegen ihn.
Nachdem der offen mit der NPD sympathisierende Rassist das erste Urteil
gegen ihn nicht akzeptierte und in Berufung ging, tötete er die
inzwischen schwangere Marwa El Shirbini mit mehr als 15 Messerstichen
während der Berufungsverhandlung am 1. Juli 2009. Inmitten eines Saales
im Dresdner Landgricht springt Alex W. auf, zieht sein im Rucksack
mitgebrachtes Messer heraus und sticht immer wieder auf Marwa und ihren
Ehemann Elwi Ali Okaz ein. Ein zufällig anwesender Polizist betritt den
Saal und schießt innerhalb kürzester Zeit auf Elwi Ali Okaz. Später
versucht der Polizist sich zu rechtfertigen, indem er  ihn als den
aktiveren der beiden um das Messer Ringenden wahrgenommen haben will.
Die Frage, warum er ausgerechnet auf die dunkelhäutigere der beiden
Personen schoss, darf nicht vernachlässigt werden. Auch nach dem
Freispruch von allen rassistischen Motivationen und Vorurteilen  durch
die deutsche Justiz, liegt ein rassistischer Hintergrund für sein
Handeln nahe. Was sonst lässt einen deutschen Polizisten automatisch
auf die dunkelhäutigere zweier kämpfender Personen schießen, als tief
verwurzelte Ressentiments und lange konditionierte Feindbilder?

Rassismus
war auch die Motivation Alex W.s, als er Marwa El Shirbini aufgrund
ihres Kopftuches, das ihm wohl als Indikator für eine nicht-europäische
Herkunft und die ihm verhasste Religion Islam diente, beleidigte,
seine erste Verurteilung zu 750 €  nicht akzeptierte und sie
schließlich im Gerichtssaal erstach. Während der Prozesse machte er
keinen Hehl aus seinem völkisch- nationalistischen Denken und seiner
Sympathie zur NPD, die er eigenem Bekunden nach auch wählte; nach einem
Sieg der NPD sei endlich Schluss mit „Multikultischeiße“. Da Alex W.
selber keine substanzielle Unterscheidung zwischen  bekennenden
Muslim_innen und anderen Menschen, die er als „Ausländer“ wahrnimmt
leisten kann und daran  auch nicht interessiert  sein dürfte, reichten
ihm eben Kopftuch und Hautfarbe seines Opfers um als Projektionsfläche
für seine rassistischen, muslim_innenfeindlichen Hassfantasien zu
dienen.

In diesem Jahr, am 1.Juli jährt sich der rassistische
Mord an Marwa El Sherbini. Aus Respekt gegenüber dem Opfer und der ihr
nahe stehenden Menschen rufen wir zur Teilnahme an der offiziellen
Trauerveranstaltung mit anschließender Demonstration auf und
organisieren keine Parallelveranstaltungen. Dennoch wollen wir mit
einem eigenen Aufruf und einer zahlreichen Teilnahme die Zustände
kritisieren, in denen Menschen nach rassistischen Maßstäben verwaltet,
eingesperrt, abgeschoben und somit oftmals in Elend und Tod geschickt
werden. Rassistische Projektionen wie sie bei Alex W. und vermutlich
auch dem Polizisten aus dem Landgericht vorkommen, entstehen nun mal
nicht in einem luftleeren Raum, sondern in einer Umwelt, in der
Behörden, Politik und Bevölkerung nach wie vor menschenverachtende
Maßstäbe im Umgang mit als „fremd“ wahrgenommenen Menschen anlegen.
Dies äußert sich unter anderem in einem menschenverachtenden  Umgang
mit Asylsuchenden und anderen illegalisierten Menschen, denen während
des Asylverfahrens oder in der Abschiebehaft mit allen Mitteln versucht
wird, Deutschland als Migrationsziel so unerträglich wie nur möglich zu
machen. Insbesondere in Sachsen müssen Asylsuchende stellenweise immer
noch von vorgepackten Essenskartons versuchen zu leben, sind in der
Provinz durch die Residenzpflicht stark isoliert und der örtlichen
rassistischen Bevölkerung ausgesetzt. Ohne Geld, ohne
Bewegungsfreiheit, mit schlechtester medizinischer Versorgung und ohne
Rechte werden Menschen hier verwaltet und nur in den seltensten Fällen
wird einem Antrag auf Asyl stattgegeben.
Die Vergabe von
Arbeitsstellen ist ebenfalls gesetzlich so geregelt, dass
„nicht-europäische“ Arbeitnehmer_innen gegenüber Deutschen oder EU-
Bürger_innen stark benachteiligt sind. Qualifikation spielt dabei eine
untergeordnete Rolle;  diese Regelung diskriminiert somit alle
nichtdeutschen pauschal.
Zudem hat Dresden auch eine ansehnliche
Bilanz was rassistische oder rechte Gewalt angeht. Dabei betreffen die
gewalttätigen Übergriffe nicht nur Menschen mit dunkler Hautfarbe,
sondern auch nicht deutsch sprechende Personen, Obdachlose,
Homosexuelle, vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner_innen
und deren Büroräume, Fahrzeuge oder Wohnhäuser.

Da am 1. Juli
offizielle Vertreter_innen des Freistaates Sachsen und der Stadt
Dresden anwesend sein werden, rufen wir daher ebenfalls dazu auf, die
konstanten Linien von strukturellem und alltäglichen Rassismus bis hin
zum Mord nicht zu leugnen und das Problem beim Namen zu nennen:
Rassismus! Wir widersetzen uns der Konstruktion eines guten,
betroffenen Deutschland, dass sich von den Morden, die aus  der
eigenen,  Jahrzehnte währenden rassistischen Ausgrenzungspolitik und
deutschnationalem Alltagsrassismus entspringen, abgrenzen kann. Wir
nehmen den Vertreter_innen von Stadt und Land kein Wort der
Betroffenheit ab, so lange sie weiterhin Menschen einsperren, von der
Außenwelt isolieren und abschieben.

Nutzen wir die Gelegenheit, unsere Kritik, unsere Trauer und Wut deutlich zu kommunizieren.
Kein Mensch ist illegal! Strukturellen und alltäglichen Rassismus bekämpfen!

an die Gedenkkundgebung um 17 Uhr anschließende Demonstration am 1. Juli 2010
Treff: 18 Uhr vor dem Rathaus


Aufruf vom Vorbereitungskreis für das Gedenken an Marwa:

In Erinnerung an Marwa El-Sherbini

Vor
einem Jahr schockierte die Nachricht vom Attentat an der in Dresden
lebenden Ägypterin Marwa El-Sherbini nicht nur unsere Stadt, sondern
die Menschen in allen Teilen der Welt. Mit 18 Messerstichen wurde sie
von einem Rassisten und Islamhasser hermordet. Diese schreckliche Tat
geschah nicht nur vor den Augen ihres Kindes Mustafa und ihres
Ehemannes Elwi Okaz, der beim Versuch seine Frau vor dem Messerangriff
zu schützen durch den Täter und einen Schuss eines Polizeibeamten
schwer verletzt wurde, sondern in aller Öffentlichkeit im Gerichtssaal
des Dresdner Landgerichts.
Marwa El-Sherbini, eine Sportlerin und
studierte Pharmakologin, lebte hier in Deutschland mit ihrer jungen
Familie. Sie studierte die deutsche Sprache und arbeitete als
Apothekerin. Ihr Mann forschte am hiesigen Max-Planck-Institut. Sie
wollte das Land und seine Menschen kennenlernen und verstehen. Sie
schloss Freundschaften mit Nachbarn, den Müttern und Erzieherinnen des
Kindergartens ihres Kindes und mit ihren Kollegen. Sie wehrte sich mit
juristischen Mitteln gegen Fremdenhass und Intoleranz und baute auf den
Schutz ihrer Rechte durch die Justiz.
Der Mord an Jorge Joao
Gomondai im Jahre 1991 war der erste rassistische Mord in Dresden nach
der Wiedervereinigung. Unbegreiflicherweise sind auch 19 Jahre später
solche Taten immer noch möglich und stellen die Frage nach den Quellen
und dem Umgang mit diesem tödlichen Hass und nach der Ernsthaftigkeit
des staatlichen und gesellschaftlichen Engagements gegen Rassismus und
Gewalt.

Gedenktag für Marwa El-Sherbini

Wir rufen dazu
auf, den 1. Juli als Tag zu begehen, der für menschliche Solidarität
und für die Einhaltung der uns alle verbindenden humanistischen Werte
steht. Wir wollen eintreten für die Akzeptanz der Anderen und für das
Recht aller Menschen, in Frieden und Freiheit zu leben und ihre
Lebensweise frei zu wählen.
Am Gedenktag wollen wir unsere
Ablehnung aller Formen von Rassismus und Diskriminierung wie
Verachtung, Hass und Gewalt gegen anders Glaubende, anders Denkende,
anders Aussehende und anders Lebende bekräftigen. Diese, seit dem Mord
an Jorge Gomondai im Jahre 1991, sichtbare Erscheinung in unserer
Gesellschaft muss von Bürgern, Politikern und Regierenden mit aller
Konsequenz bekämpft werden. Dazu braucht es die ständige
Aufmerksamkeit für dieses Thema, dazu braucht es konkrete Taten und
Maßnahmen in Medien, Schulen, in der Landes- und Kommunalpolitik. Bloße
Versprechungen reichen nicht aus.
Rassistische Auswüchse vergiften
in verschiedener Form, wie der Islamophobie, das gesellschaftliche
Klima und zerstören den sozialen Frieden. Diese Untaten entstellen das
Gesicht unserer Gesellschaft und strafen den weltoffenen Ruf Sachsens
Lügen.
Wir alle wünschen uns, dass die allseits proklamierte
Weltoffenheit endlich zur Realität wird. Wir wehren uns gemeinsam
gegen Ausgrenzung, Ignoranz und die Verbreitung von Angst. Wir sind
überzeugt, dass eine demokratisch verfasste Gesellschaft in der Lage
sein muss, diese verderblichen Auswüchse zu überwinden. Hier sind
auch der Rechtsstaat und die Gesetzgebung in der Pflicht.
Wir
Menschen, die wir friedlich in unserer Stadt zusammen leben möchten,
bilden das gemeinsame Band der Solidarität, um den Rassismus
endgültig aus den Köpfen zu verbannen.

Ablaufplan:
Um den
Gedanken, Gefühlen und der Trauer in unserer Stadt einen Rahmen zu
geben, lädt der Vorbereitungskreis beim Ausländerrat Dresden e.V.
alle Dresdnerinnen und Dresdner zu einer Gedenkveranstaltung für die
ermordete Marwa El-Sherbini am 1. Juli ein.
Um den Rahmen des
Gedenkens und Erinnerns zu wahren und zu akzeptieren, bitten die
Veranstalter darum, von Fahnen, Transparenten und Kundgebungsmitteln
jeder Art Abstand zu nehmen. Wir möchten dem Anlass entsprechend eine
Möglichkeit des ehrvollen Gedenkens und vernunftvollen Nachdenkens
bieten.

Gedenkkundgebung 1. Juli, 17 Uhr, Rathausplatz („Goldene Pforte“)

Redebeiträge:
N.N.,
Vertreter der ägyptischen Botschaft in Deutschland (in Vertretung des
Botschafters Elsayed Ramzy Ezzeldin Ramzy) [angefragt]
Aiman Mazyek, Generalsekretär des Zentralrates der Muslime [zugesagt]
Dr. Jürgen Martens, Sächsischer Staatsminister der Justiz (in Vertretung des Ministerpräsidenten) [zugesagt]
Helma Orosz, Oberbürgermeisterin der Landeshauptstadt Dresden [zugesagt]
Nabil Yacoub, Sächsischer Migrantenbeirat [zugesagt]
Marianne Thum, Vorbereitungskreis „Gedenken an Marwa El-Sherbini“ [zugesagt]
Moderation: Sebastian Vogel, Vorsitzender des Ausländerrates Dresden e.V.

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