Kotzen gegen Sarrazin – Proteste und Stellungnahme zur Lesung am 13.1. in Dresden

Transparent vom Libertären Netzwerk Dresden

Mit 2550 Besucher war die ausverkaufte Veranstaltung mit Sarrazin in der Dresdner Messe – die meistbesuchte auf Sarrazins Tour durch Deutschland bisher. Und das Publikum sparte auch nicht mit Applaus zu den kulturalistischen Thesen Sarrazins, für den der Erfolg des deutschen Nationalstaats im Hauen und Stechen des kapitalistisch organisierten Weltmarkts im Vordergrund steht und der daher folglicherweise die Menschen vor allem nach ihrem Nutzen für die Volkswirtschaft wertet. Einige Dutzend Nazis waren auch dabei, kamen jedoch nicht immer auf ihre Kosten. Dagegen hatten es die 200 GegendemonstrantInnen schwer, wegen des Nieselregens und überhaupt. Gegen Ende ließ ein junger Mann seinem Ekel über die Veranstaltung mit einer Kotzattacke in den Saal freien Lauf, durch deren Folgen prompt noch ein Nazi stiefelte.

Bericht von addn.me: Ein Hauch von Sportpalast auch in Dresden?

Weiterlesen: Presse und Flugblatt des Libertären Netzwerks mit Position zu Sarrazins Thesen


Freie Presse, 14.1.2011

Proteste bei Auftritt Sarrazins in Dresden

Messehalle zur Verfügung gestellt

Dresden (dapd). Begleitet von Protesten und Gegenerklärungen hat der frühere Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin am Donnerstagabend in Dresden sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ vorgestellt. Wegen des starken Zuspruchs hatte die Messe Dresden der veranstaltenden Agentur ihre größte Messehalle zur Verfügung gestellt. Dort versammelten sich etwa 2.500 zahlende Besucher.

Vor dem Tor protestierten etwa 150 Demonstranten mit Plakaten und Rufen gegen die Thesen Sarrazins. Anhänger der Linken versuchten, die Besucher über einen symbolisch ausgelegten braunen Teppich zum Eingang zu geleiten. Die Polizei räumte ohne Zwischenfälle einen breiteren Zugang frei. Am Rande kam es zu heftigen Wortwechseln zwischen Gegnern und Anhängern Sarrazins. Vom „Rassismus der Mitte“ war seitens der Protestierenden die Rede, Vergleiche mit 1933 wurden gezogen. Anhänger wiederum zeigten provisorisch gemalte Plakate, auf denen „Danke Thilo“ und „Islamisierung stoppen“ zu lesen war.

Sarrazin wurde vom Publikum mit stehenden Ovationen empfangen und sprach eineinhalb Stunden frei über sein Buch. In der anschließenden Diskussion verlangte er unter anderem die Einführung von Schuluniformen, die das Tragen eines Kopftuches ausschließen. Er plädierte für die Abschaffung aller Geldleistungen an Kinder, die durch umfangreichere Gesundheitsfürsorge und Bildungsangebote ersetzt werden sollten.

dapd


Stellungnahme des Libertaeren Netzwerks zu der Lesung von Thilo Sarrazin am 13. Januar in Dresden

Wir rufen alle Libertaeren Menschen, alle Antifaschist_innen sowie alle anderen Gegner_innen eines Rassismus in neuem bürgerliche Gewand auf, sich an den Protesten gegen die Lesung Thilo Sarrazins zu beteiligen!
In einem breiten Bündnis werden wir zeigen, dass Sarrazin und seine ideologischen Ansätze in einer progressiven, toleranten und solidarischen Gesellschaft nichts zu suchen haben. Lasst uns ihm mit vielseitigen, kreativen Protestformen gemeinsam die Show stehlen! Lasst uns Rassisten beim Namen nennen!

Hintergründe:

Wir werden an dieser Stelle kurz die Fakten zu Sarrazin und seinem Buch zusammenfassen. Die gesamte Debatte, die sich um seine Thesen gesponnen hat, kann aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden.
Der SPD Finanzpolitiker und Bundesbankvorstand Dr. Thilo Sarrazin veröffentliche am 30. August 2010 sein Buch „Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen.“ Zu diesem Zeitpunkt war bereits eine heftige Debatte über vorab veröffentlichte Thesen aus der Publikation entbrannt. Ablehnung und Zustimmung zogen sich durch breite Teile der Gesellschaft. Die einzelnen Positionen lassen sich in etwa wie folgt zusammenfassen:
Die eugenischen Aussagen Sarrazins wurden zum Anlass unterschiedlich scharf formulierter Kritik genommen. Wahlweise wurde ihm direkt Rassismus vorgeworfen oder man legte ihm nur Nahe sich in seiner Argumentation von biologistischen Erklärungsmustern zu verabschieden (u.a. Claudia Roth (Die Grünen), Guido Westerwelle (FDP), Sigmar Gabriel (SPD), Gesine Lösch (Die Linke), Angela Merkel (CDU), Roland Koch (CDU) und diverse Journalisten). Dennoch forderten einige eine Integrationsdebatte mit Fokus auf sog. „Integrationsunwilligkeit“. Viele Medien und Forschungseinrichtungen widerlegten oder relativierten Sarrazins Thesen öffentlich.
Einen direkten Schulterschluss übten dagegen rechtsradikale/rechtspopulistische Gruppierungen. Die Partei Pro Deutschland bot ihm den Parteivorsitz an. Die anderen Unterstützer_innen nutzten derweil vorwiegend eine spätestens seit den Auseinandersetzungen um Möllemann bekannte Argumentationsweise. Sie nahmen wenig direkten positiven Bezug auf den Inhalt des Buches, sondern sehen eine „Hexenjagd“ (Henryk M. Broder) gegen einen mutigen Tabubrecher und die Meinungsfreiheit als solches im Gange (u.a. Klaus von Dohnanyi (SPD), Norbert Bolz (Medientheoretiker), Berthold Kohler (Journalist), Ralph Giordano(Schriftsteller), Helmut Schmidt (SPD)).
Das Buch ist mit einer Auflage von 1,25 Millionen das meistverkaufte Sachbuch des Jahres. Auch die ausverkauften Lesungen Sarrazins zeigen eine breite gesellschaftliche Zustimmung. Inzwischen hat Sarrazin den Vorstand der Bundesbank gegen eine Erhöhung des Ruhegehalts „freiwillig“ verlassen. Zwei Parteiausschlussverfahren der SPD waren aufgrund unterschiedlicher Positionierungen in der Partei bis jetzt nicht erfolgreich. In einem von der SPD in Auftrag gegebenen Gutachten vom Moses-Mendelssohn-Zentrum werden seine Aussagen als „klar rassistisch“ bezeichnet.

Unsere Position:

„Deutschland schafft sich ab“
Wir betrachten das Buch Sarrazins nicht als ein wissenschaftliches, sondern als ein propagandistisches Werk zur Unterstützung eines bestimmten politischen Weltbildes, das wir entschlossen ablehnen. Deshalb versuchen wir auch nicht, wie es der Anspruch eines wissenschaftlichen Diskurses wäre, die Thesen Sarrazins im Einzelnen zu widerlegen.
Behauptungen, wie eine genetische Kopplung von Ethnie und Intelligenzgrad (Sarrazins eindimensionaler Intelligenzbegriff an sich ist nicht auf der Höhe der Forschung), sind offensichtlich ebenso absurd, wie rassistisch und gefährlich. Würden wir die Ausführungen glauben und zu Ende denken, wäre Unterjochung der „dummen“ Ethnien, des nahen Ostens oder Afrikas, durch die intelligenten, aufgeklärten Völker Europas (im Falle Sarrazin inklusive der „Juden“) die Konsequenz. Diese Ansichten schießen weit über das Konzept „Ethnopluralismus“ (Henning Eichberg) vieler Neonazi-Ideologen  hinaus.
Wir bezeichnen Sarrazin deshalb als Rassisten. Den Rassismus mit all seinem pseudowissenschaftlichen Unterbau, namentlich Elementen der Eugenik und des Sozialdarwinismus, wieder zurück in die Debatte zu führen, ist nicht nur so unnötig wie ekelhaft, sondern verhindert darüber hinaus einen vorwärts gerichteten Diskurs hin zu einer gerechteren, sozialen und freiheitlicheren Gesellschaft. Die erfolgreichen Bemühungen vieler Kritiker_innen, die Argumentation seines Buches zu widerlegen, waren zwar sicher wohl gemeint, haben jedoch erst bewirkt, dass eine für viele Menschen dieser Gesellschaft diskriminierende Debatte geführt werden konnte. In Sarrazins Schriften werden wir keine neuen Lösungsansätze zu den komplexen Problematiken der heutigen Gesellschaft finden. Seine Thesen mit all ihren Bezügen auf Eugeniker des frühen 20. Jahrhunderts sind nicht neu. Sie wurden längst wissenschaftlich widerlegt und spätestens das Dritte Reich hat mit einer konsequenten, staatlichen Umsetzung von „Rassenlehre“ und nationalistischen Wertesystemen den blutigen Weg solcher Denkmuster in der Praxis offenbart.
Wir werden weder jetzt noch in Zukunft rassistischer Propaganda in pseudowissenschaftlichem Gewand auf den Leim gehen!

Der Tabubruch

Sarrazin bricht nicht als „Engel der Meinungsfreiheit“ irgendwelche Tabus in einer ach so links dominierten Gesellschaft. Er ist auch keiner „Hexenjagd“ ausgesetzt. Wer wollte ihn schon foltern, ermorden, ins Gefängnis stecken, enteignen oder auch nur mit Berufsverbot belegen? Ihm öffentlich entschieden zu widersprechen ist unser gutes Recht. Selbst seine Partei, die SPD, hält einen Rassisten in ihren Reihen weiterhin für erträglich. Ganz im Gegenteil erweist sich die Opferinszenierung für ihn als finanziell sehr lukrativ.
Eines zumindest zeigt uns „Deutschland schafft sich ab“: Mit der „Dummheit“ der deutschstämmigen Normalgesellschaft lässt sich vorzüglich Geld verdienen!

Extremismus der Mitte

Nach allen Worten, die wir über Sarrazin verloren haben, erkennen wir, dass die politische Brisanz nicht in der Publikation selber liegt, sondern in den gesellschaftlichen Reaktionen. Kaum dass Rassismus durch ein wenig innovatives Buch eines „anerkannten“ Politikers wieder salonfähig geworden scheint, erheben sich all jene, die am Stammtisch schon immer Bescheid wussten, denen der ausländische Laden noch nie ins Stadtbild passte. Der arbeitende Deutsche aus Überzeugung tritt aus dem Schatten und weiß: Die „unnützen“, „unproduktiven“ Menschen sind schuld an seinem Unglück und jenem seiner gefühlten Volksgemeinschaft. Statt eine ungerechte Wirtschaftsordnung, fehlende Mitbestimmung in der eigenen Umgebung oder eine überbordene staatliche Bürokratie als Problem zu erkennen, wird das schwächste Glied der Leistungsgesellschaft, Arbeitslose und Migranten, als Sündenbock ausgewählt und diskriminiert.
Das Phänomen ist alt bekannt und wir möchten es gerne ins Bewusstsein zurück rufen. Die soziologische Theorie vom „Extremismus der Mitte“ sieht eine „Anschlussfähigkeit einer Vielzahl neu-rechter Themen in der Mitte der Gesellschaft“ (Hans-Martin Lohmann). Während die Theorie ursprünglich entwickelt wurde, um den deutschen Faschismus der 30er Jahre zu erklären, zeigten Vorfälle, wie das Pogrom in Rostock Lichtenhagen (1992), die Aktualität des Ansatzes auch bezogen auf die Bundesrepublik. Verschiedene Studien, sowie aktuell die anonyme Zustimmung zum Buch Sarrazins, offenbaren rassistische, fremdenfeindliche, unsoziale und sexistische Einstellungen in breiten Teilen der Gesellschaft.
Die aktuelle Tendenz im Sinne der „Extremismustheorie“ die Feinde der Gesellschaft außerhalb oder in Randgruppen zu verorten, kaschiert bedenkliche Tendenzen im gesellschaftlichen Mainstream und fördert genauso wie nationale Identitätskonstrukte die Diskriminierung von Minderheiten.

Das Libertäre Netzwerk tritt für eine Gesellschaft ohne Unterdrückung und Diskriminierung ein. Darum kann das Ziel nur heißen: Den rassistischen Konsens brechen!

3 comments

  1. Meine Reaktion auf Oliver Reinhards Kommentar in der SäZ vom 14.01.11:

    Sehr geehrter Oliver Reinhard,

    ich möchte Bezug nehmen auf Ihren Kommentar vom 14.01.2011 „Es geht gegen Sarrazin, nicht Hitler“.
    In einem Punkt gebe ich Ihnen recht, dass polemische Kritik an Sarrazins Äußerungen eher an ihm und seinen Befürwortern abprallt. Jedoch finde ich nicht, dass sie die Artikulationen und Aktionen der Gegnerschaft diskreditieren müssen.
    Der braune Teppich und die Assoziation mit dem Nationalsozialismus sind durchaus angemessen. Denn Sarrazins Theorien auf genetisch-biologischer Ebene gegen sozial Schwache und Menschen mit Migrationshintergrund sind mindestens genauso gefährlicher Zündstoff für Ausgrenzung und Diskriminierung wie die Pseudotheorien Hitlers und Anderer, welche die Vernichtung von Menschen mit Hilfe der Genetik versuchten zu legitimieren. Mindestens Ihre letzte Bemerkung hätten Sie sich sparen können, Herr Reinhard. Natürlich ist Sarrazin nicht Hitler! Aber die Assoziation ist nicht wegzureden, falls Sie mal einen Blick in „Mein Kampf“ geworfen haben. Bleiben Sie bei Ihrer klaren Haltung wie im ersten Teil Ihres Kommentars. Meine Befürchtung ist vielmehr, dass die Diskreditierung der Gegner Sarrazins wenig hilfreich ist, wenn wir uns die Frage stellen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Ich lehne Gesellschaften ab, in denen pauschalisierende und vereinfachende Sündenbocktheorien wie die Sarrazins für die deutlich sichtbare Zunahme von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sorgen, übrigens auch unterstützt durch Blätter, die sich offiziell nicht einmal mehr Zeitung nennen dürfen.

    Mit konstruktiven Grüßen

    Jens B., Dresden

  2. Unglaublich was sich hier in D-Land abspielt. 2.500 drinnen und nur 200 draußen. Die Mehrheitsgesellschaft entledigt sich langsam auch der letzten Hemmungen im Kampf um das letzte bisschen Effizienz. Nutzen wird es ihnen nichts, doch werden darunter wohl noch einige Menschen zu leiden haben, darunter zu allererst Nichtbiodeutsche.