Unglück und Hoffnung, Rettung und Tod – die Extreme liegen dicht beieinander, für die verbliebenen Dresdner Juden am 13. Februar 1945 in Dresden: Am Vormittag wird der Deportationsbescheid überbracht und am Abend fallen die Bomben. Ein Volltreffer geht auf eines der beiden letzten so genannten Judenhäuser – die Zeughausstraße 1 an der Frauenkirche. Die Luftschutzkeller sind für Juden verboten. Viele konnten sich verstecken und überlebten den Krieg und die Nazis, die noch immer nach ihnen suchten.
Teil 1: Einen Einstieg in das Thema gibt ein Ausschnitt aus dem Buch „Das rote Leuchten“: Es wird aufgeschlüsselt, was mit den 6000 Dresdner Jüdinnen und Juden passierte, die 1933 in Dresden erfasst wurden. Der letzte sächsische Deportationszug am 16. Februar ins KZ Theresienstadt geht ohne die Dresdner Juden. Die meisten Deportierten dieses Transports überlebten.
Im weiteren geht es um zwei Frauen, die sich in der Bombennacht durch die brennende Stadt retteten, den gelben Stern entfernten, untertauchten und überlebten: Henny Brenner und Brigitte Rothert, die Großkusine von Kurt Tucholsky. Beide haben jeweils ein Buch über ihre Erinnerungen verfasst. Henny Brenner („Das Lied ist aus“) zitiert ihren Vater mit dem dadurch bekannt gewordenen Spruch „Lieber eine Bombe auf den Kopf als Auschwitz“. Brigitte Rothert („Tucholskys Großkusine erinnert sich“) tritt das literarische und antimilitaristische Erbe ihres berühmten Großonkels an. Heute kommt Henny Brenner hin und wieder gern zurück in die Stadt ihrer Kindheit und Jugend. Der Gottesdienst mit Übergabe eines Nagelkreuzes aus Coventry am 13. Februar 2005 in der gerade wieder aufgebauten Frauenkirche empfand sie als positives Erlebnis, wie sie einige Tage später bei einer Lesung zu ihrem Buch erklärte. Ein Zeitungsartikel über Henny Brenner und ein Interview mit Brigitte Rothert geben Einblicke in ihr Erleben des 13. Februar 1945 in Dresden.
Ausschnitt aus: Von der „Friedens-Oase“ zur Trümmerwüste – Dresden im Bombenkrieg
Oliver Reinhard in: Das rote Leuchten – Dresden und der Bombenkrieg
Es ist ein Aspekt der Luftangriffe auf Dresden, der nur selten Erwähnung findet und in der kollektiven Erinnerung heute beinahe untergegangen ist: Die Bomben vernichteten unzählige Leben, aber sie retteten auch einige. Nicht nur die jener Gefangenen, die sich aus dem Gerichtsgebäude am Münchner Platz befreien konnten und, anders als die meisten von ihnen, nicht schon in den nächsten Tagen wieder gefasst wurden. Auch einige Juden, die deportiert und damit in den beinahe sicheren Tod geschickt werden sollten, verdanken ihr Überleben womöglich nur den alliierten Februar-Angriffen.
Ihre Zahl war bereits gewaltig geschrumpft. Die so genannte Rassenpolitik der Nationalsozialisten zur Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung der Juden hatte sich in Dresden schon bald nach der NS-„Machtergreifung“ in zahlreichen legalen und illegalen Aktionen gegen jüdische Bürger geäußert, begleitet von offenen antisemitischen Hassgefühlen vieler nichtjüdischer Einwohner. Über eine Woche vor der „Reichskristallnacht“ führte die Gauleitung unter Martin Mutschmann am 27. Oktober 1938 die erste Deportation durch: Sie ließ sämtliche Juden polnischer Staatsangehörigkeit verhaften – etwa 500 Menschen – und nach Polen schaffen. Etliche weitere und sehr viel umfangreichere Aktionen folgten. Im Januar 1939 lebten statt der 1933 behördlich erfassten 6000 Dresdner Juden nur noch 1536 „Rassejuden“ in der Stadt, von denen man den größten Teil im Folgejahr aus ihren Wohnungen vertrieb und in insgesamt 32 „Judenhäuser“ schickte. Weitere zwei Jahre darauf begann ihre systematische Deportation zunächst in die Ghettos von u.a. Riga und Lodz, später direkt in Vernichtungslager. Was sie an Besitz zurückließen, wurde von den lokalen Behörden beschlagnahmt, dann versteigert oder verkauft. Ihre Habe, so war es geplant, sollte vollständig in „volksdeutschen“ Besitz übergehen. Die Verbliebenen mussten, sofern sie als einsatzfähig galten, Zwangsarbeit verrichten. Das geschah zumeist in Rüstungsbetrieben, wo bereits seit Jahren Tausende verschleppte Fremdarbeiter schufteten, die mehrheitlich aus Polen und der Sowjetunion stammten. Am 3. Februar 1943 löste die Gauleitung auch das Dresdner „Judenlager“ auf dem Hellerberg auf. Von den über 350 Insassen kamen fast alle in Auschwitz-Birkenau um.
(…)
Nun, im Februar 1945, standen die Amerikaner bereits am Rhein und die Rote Armee bei Breslau. Auschwitz hatten die Sowjets zwar im Januar befreit, doch in anderen KZs tobte der Holocaust weiter. Jetzt sollten auch möglichst alle der noch in Sachsen lebenden „privilegierten“ Juden, also solche mit einem nichtjüdischen Ehepartner, in Vieh- und Güterwaggons zum angeblichen Arbeitseinsatz transportiert werden. Unter ihnen auch die „Einsatzfähigen“ der letzten 174 Juden aus Dresden und 24 aus dem Regierungsbezirk der Stadt. Nur wenige waren, wie Victor Klemperer, davon ausgenommen und durften bleiben.
Am 16. Februar, so war es geplant, sollte der Zug den Neustädter Bahnhof verlassen. Doch die Bomben kamen dem zuvor, und mit ihnen Chaos, Zerstörung, Verwirrung. In dieser unübersichtlichen Situation gelang vielen der für den Abtransport Bestimmten die Flucht. 70 von ihnen sollten tatsächlich in ihren Verstecken den Krieg überleben. Ob ihre planmäßige Deportation den sicheren Tod bedeutet hätte, ist gleichwohl ungewiss: Am selben 14. Februar ging der letzte Zug mit 169 Juden von Leipzig nach Theresienstadt ab. Doch die Tötungsmaschinerie der Nazis lief mittlerweile immer langsamer und stockender; fast alle Insassen dieses Transportes blieben am Leben.
Quelle: Das rote Leuchten – Dresden und der Bombenkrieg, Februar 2005, S. 96-98
Berliner Zeitung, 12. Februar 2005
„Uns kann nur ein großer Angriff retten“
Henny Brenner, eine Jüdin aus Dresden, überlebte das Dritte Reich. Sie überlebte, weil Engländer und Amerikaner die Stadt an der Elbe bombardierten
Frank Junghänel
WEIDEN, im Februar. Es sollten sechzig Jahre vergehen, ehe Henny Brenner einem ihrer Retter in die Augen sehen konnte. Leslie Hay war nicht auf Dankbarkeit vorbereitet, als er an einem Abend Anfang Januar in Dresden an den Tisch der älteren Dame trat. Das ZDF hatte für eine Dokumentation Zeitzeugen des Bombenangriffs vom Februar 1945 eingeladen. Leslie Hay, der Engländer, ging auf die Deutschen zu. Er suchte eine Geste der Versöhnung. „Als ich ihm sagte: You have saved my life, hat er mich umarmt“, erzählt Henny Brenner. „Er hat geschluchzt.“ Als Bomberpilot der Royal Air Force war Leslie Hay in der ersten Angriffswelle geflogen.
Dem Bombardement englischer und amerikanischer Fliegerkräfte in der Nacht zum 14. Februar fielen mehr als 35 000 Menschen zum Opfer. Die Wunden des erbarmungslosen Luftangriffs sind nicht verheilt. Über seinen militärischen Sinn wird bis heute erbittert diskutiert.
„Ich verdanke den Bomben, die Dresden zerstörten, mein Überleben“, sagt Henny Brenner. Sie kennt die alten Dresdner und sie weiß um den Klang dieser Worte in diesen Tagen. Sie ist selbst eine alte Dresdnerin; eine Jüdin aus Dresden.
Am Sonntag wird Henny Brenner den Ort ihrer Kindheit aufsuchen, um ihre Geschichte zu erzählen. Seit fünfzig Jahren lebt sie in der Oberpfalz. Sie kehrt mit zwiespältigen Gefühlen zurück. Es ist ein besonderes Schicksal, das sie mit ihrer Heimatstadt verbindet.
„Die Stadt, die ich verbrennen sah, hatte einstmals als Zuflucht für meine Großeltern gedient“, sagt Henny Brenner. Nach antijüdischen Pogromen in Russland waren sie 1892 von Minsk nach Dresden gekommen. Henny Brenner sitzt im Sessel ihres Wohnzimmers, auf dem Schoß einen Karton mit Fotos und Dokumenten. Die Sonne, die durchs Fenster scheint, blendet sie. Wo ist aller Anfang? Als ihre Mutter 1920 den protestantischen Herrn Wolf heiratete, konnte niemand ahnen, dass man diese Ehe bald als „Mischehe“ diffamieren würde.
Henny kam 1924 zur Welt, ihr Vater nannte sein blondes Mädchen „Mondscheinprinzessin“, weil es so blass war. Die Familie wohnte in der Nähe des Großen Gartens. Dem Vater gehörte das Palast-Theater, ein Kino, in dem Henny gern ihre Mickeymaus-Filme sah. „Meine Eltern führten das übliche bürgerliche Leben.“ Mit der Religion hielten sie es liberal. Als die Nazis an die Macht kamen, war Henny Wolf, wie sie damals hieß, acht Jahre alt.
Im Jahr 1933 lebten in Dresden etwa sechstausend Juden. Die jüdische Gemeinde in der sächsischen Metropole war nie sehr groß gewesen. Doch auch die wenigen wurden verfolgt, verjagt, vernichtet. Anfang 1945 gab es nur noch zirka 170 jüdische Einwohner. Fast alle waren durch ihre „arischen“ Ehepartner vor der Deportation bewahrt worden. Die Wolfs hatten nahezu alles verloren, ihre Verwandtschaft, ihre Freunde, ihr Kino, ihre Wohnung. Henny Wolf ging nicht auf die Kunstakademie, wie sie es als junges Mädchen vorgehabt hatte. Sie musste Zwangsarbeit für die Rüstungsproduktion leisten, zuletzt in einer Kartonagenfabrik, wo sie auch Victor Klemperer traf. Jeden Tag verschwanden Menschen. Sie wurden abgeholt, sie kamen nicht mehr wieder. „Die Angst war schlimmer als alles andere“, sagt Henny Brenner, „schlimmer als der Hunger, als der Judenstern.“
Am Vormittag des 13. Februars 1945, Faschingsdienstag, kam ein Bote der jüdischen Gemeinde mit einem Schreiben zu den Wolfs. Henny Brenner hat es bewahrt. Sie entfaltet es. „Auf Anweisung der vorgesetzten Dienststelle, der Geheimen Staatspolizei Dresden fordere ich sie auf, sich Freitag, den 16. Februar 1945, früh 6.45 Uhr pünktlich im Grundstück Zeughausstraße 1, Erdgeschoss rechts, einzufinden.“ An der Zeughausstraße hatte einst die Dresdner Synagoge gestanden. Bis zur Pogromnacht 1938, als sie von den Nazis in Brand gesteckt wurde. Das von Gottfried Semper erbaute Gebäude war aus der Silhouette am Elbufer getilgt worden.
Die Wolfs wurden aufgefordert, eine Decke – „darf über dem Arm getragen werden“ – und ein Essgeschirr zum Stellplatz mitzubringen. „Das hieß KZ, das war uns klar“, sagt Henny Brenner. „Vermutlich Theresienstadt, aber wahrscheinlich hätten sie uns schon unterwegs erledigt. Mutter und ich sollten fort. Mein Vater regte sich fürchterlich auf: Das kommt nicht in Frage. Entweder gehe ich mit oder es geht keiner. Er dachte daran, uns in einem der Flüchtlingstrecks zu verstecken, die aus Schlesien kamen.“ Dann, sagt sie, fiel dieser Satz: „Uns kann nur ein großer Angriff retten.“
Aber mit einem Angriff auf Dresden rechnete ja niemand. Die Stadt war so lange verschont geblieben.
„Ach Papa, was redest du. Wir haben das gar nicht ernst genommen. Wir saßen da, mit dem Kopf in der Hand. Wir waren wie gelähmt. Meine Mutter heulte die ganze Zeit und ich war auch völlig verzweifelt.“ So wurde es Nachmittag.
Tausend Kilometer entfernt, auf den Feldflugplätzen an der englischen Küste, nahmen die Piloten ihren Einsatzbefehl entgegen. Den Fliegern wurde erklärt: Früher bekannt für sein Porzellan, hat sich Dresden zu einer äußerst wichtigen Industriestadt entwickelt, und wie jede andere Großstadt verfügt es über vielfältige Telefon- und Eisenbahneinrichtungen.
Mit diesen Informationen im Kopf stiegen Männer wie Leslie Hays in ihre Bomber. Zwischen 17.30 Uhr und 18 Uhr hoben die 245 Maschinen der ersten Welle ab.
„Wir konnten nicht schlafen“, sagt Henny Brenner. „Mein Vater hatte sich mit seiner Kleidung, auch den Schuhen aufs Bett geworfen. Um zehn begannen die Sirenen zu tönen. Nach einer viertel Stunde klingelte der Luftschutzwart und forderte uns auf, in den Keller zu kommen. Mein Vater sagte: Wir dürfen nicht. Uns Juden war es verboten, den Luftschutzkeller aufzusuchen. Wenn Bomben fallen würden, sollten wir oben verbrennen. Doch, doch, sagte der Wart, kommen sie, diesmal ist es Ernst. Es werden schon Christbäume gesetzt.“ So nannte man jene Munition, die das Zielgebiet beleuchtete.
Der Luftschutzwart ist ein anständiger Mensch gewesen, sagt Henny Brenner und denkt darüber nach, ob das schon etwas Besonderes sei, wenn sich ein Mensch wie ein Mensch verhält. Auch diesem Dresdner verdankt die Familie Wolf ihr Überleben. Kurz nachdem sie in den Keller kam, erhielt das Wohnhaus darüber einen Volltreffer.
Die Bomben scheinen jetzt ausgezeichnet zu fallen, meldete ein englischer Beobachter über Funk.
„Es krachte auf einmal fürchterlich. Wir rannten hinaus und sahen, dass oben alles brannte. Mein Vater hastete hoch in die Wohnung. Ich hab‘ geschrien: Papa, lass das! Er wollte Papiere holen. Als er wieder unten war, liefen wir auf die Straße. Ich riss mir den Stern vom Mantel und versteckte ihn unter der Einlegesohle meines Schuhs.“ Henny Brenner sagt: „Zum ersten Mal seit Jahren fühlte ich mich frei.“
Mit Stahlhelm und Mundschutz flüchteten sie durch die brennende Stadt. Jeder von ihnen hatte einen kleinen Rucksack auf dem Rücken. Henny Brenner hatte nicht Wäsche und Schuhe dabei, sondern Fotos und ein Kochbuch. „Es gab für uns nichts zu lesen und nichts zu essen, wahrscheinlich habe ich deshalb ein Kochbuch mitgenommen“, sagt sie. Ihr Vater wollte unbedingt zur Zentrale der Gestapo am Hauptbahnhof vordringen; sicher sein, dass die Akten vernichtet sind. „Wir kamen gar nicht so weit. Jeder dachte, dass nur sein Viertel brennt. Aber es brannte ja die ganze Stadt.“
Gegen ein Uhr nachts heulten in Dresden erneut die Sirenen. Doch nur in den Vororten, in der Innenstadt war die Alarmanlage ausgefallen. Die Menschen wurden von der zweiten Angriffswelle überrascht.
„Wir rannten in irgendeinen Keller. Da waren nur Frauen und Kinder. Alles schrie durcheinander. Ein Schäferhund bellte wie verrückt.“
Henny Brenner erinnert sich, wie sie später die Elbe suchten. „Luft, Luft. Ich wollte nur Luft. Überall lagen Leichen. In den Bäumen hingen tote Menschen. Brennende Gestalten taumelten uns entgegen. Als wir an einer kleinen Gasse hinter dem Altmarkt vorbei kamen, war da so ein Sog. Ich wusste gar nicht, dass Feuer einen solchen Sturm entfachen kann. Auf einmal hob meine Mutter vom Boden ab. Sie begann zu schweben. Wir packten sie und von dem Moment an haben wir uns immer an den Händen gehalten.“
Am Morgen erreichte die Familie die Elbwiesen im Stadtteil Laubegast. Aschermittwoch. „Die Sonne schien glutrot“, sagt Henny Brenner. Der Himmel war schwarz. Es wurde gar nicht Tag.“ Trotz der Kälte legten sich die Menschen nieder.
Was niemand von ihnen wissen konnte, zu dieser Zeit waren bereits amerikanische Bomber unterwegs nach Dresden. Kurz nach zwölf Uhr begann der Angriff. „Plötzlich war da ein Rauschen in der Luft. Zusammen mit den Tausenden Menschen um uns herum warfen wir uns flach auf den Boden. Ich weiß nicht, ob das Tiefflieger waren oder ob Bomber im Abflug ihre Last abwarfen“, sagt Henny Brenner.
Dann war endlich Ruhe.
„Vater dachte, es ist vorbei, jetzt können wir wieder normal leben.“
Doch es wurde lange nicht Tag.
„Die drei letzten Monate waren am Schlimmsten“, sagt sie. „Die Gestapo hat uns immer noch gesucht. Die waren selbst ausgebombt und hatten nichts besseres zu tun, als die paar Juden aufzuspüren, die in Dresden vielleicht noch am Leben waren.“ Die Akten, von denen ihr Vater hoffte, sie seien vernichtet, waren vor dem Angriff ausgelagert worden. Vater Wolf versteckte seine Frau und seine Tochter in einem leerstehenden Haus. Er meldete sie als verschüttet. „Drei Monate lang sind wir nicht mehr auf die Straße hinunter gegangen. Bei jedem Geräusch zuckten wir zusammen. Wenn Schritte auf der Treppe zu hören waren, dachten wir, jetzt holen sie uns ab.“ Nach ein paar Wochen zog ein SA-Mann in die Nachbarwohnung, mit seiner Familie. „Diese Kinder waren ja so entsetzlich. Sie spielten den ganzen Tag Krieg.“
Als der Nachbar eines Tages seine Uniform verbrannte, wussten sie, dass die Russen kommen. „Wir warteten auf unsere Befreier.“
Am 8. Mai rollten die Panzer der Roten Armee über die Loschwitzer Brücke, das Blaue Wunder. Ihnen folgten die Kampftruppen. „Ganz arme Menschen. Die hat Hitler alle noch in den Krieg gezogen“, sagt Henny Brenner. „Sie taten mir Leid, aber ich hatte auch wahnsinnige Angst vor denen.“ Soldaten stürmten die Häuser. „Sie wollten nur Matka und Wodka. Wir riefen Evrej, Jude. Sie sagten, nix Evrej. So ging das jede Nacht. Ich musste mich vor meinen Befreiern verstecken. Es war furchtbar. Bis einmal ein jüdischer Offizier ins Haus kam, der uns dann beschützt hat.“
Henny Brenner nimmt es immer wieder mit, über alles zu sprechen. „Besonders, wenn ich in Dresden bin, wo diese Orte sind.“ Wo bei der Frauenkirche das Judenhaus stand, in dem in der Nacht des Bombenangriffes wohl vierzig Menschen umkamen. „Sie hatten genau so wie wir auf ihre Rettung gewartet.“ Es waren Freundinnen dabei und Doktor Langer, sie kennt die Namen.
Sie wird weiterhin nach Dresden fahren, trotz allem. „Immer geht es um Dresden“, sagt sie. Um den Angriff, von dem es heißt, er sei unnötig gewesen. „Warum spricht man nicht so viel über Coventry, Guernica, Warschau? Das war alles unnötig. Der ganze Hitler war unnötig. Ohne Hitler keine Bomben. Aus.“
Neues Deutschland, 9. Januar 2008
Kurt Tucholskys Großkusine
Im Nazireich als „Mischling“ verfolgt, wurde Brigitte Rothert eine rührige Sachwalterin ihres großen Verwandten
Von Jochen Reinert
Den 9. Januar, den Geburtstag Kurt Tucholskys, feierte Brigitte Rothert viele Male an der Tucholsky-Schule in Minden. Das hatte seinen Grund: Die Großkusine des Meisters mit den fünf PS ist die einzige noch Lebende der Familie und die Schule fühlt sich ihrem Namensgeber verpflichtet. Unlängst veröffentlichte die pensionierte Lehrerin autobiografische Notizen.
Der anatolische Bauernsohn Ismet Kocak war bass erstaunt, als eine neugierige Ostberlinerin im Dezember 1989 in sein Haus schneite. Kurt Tucholskys Großkusine Brigitte Rothert führte der erste Weg in den lange verschlossenen Westteil Berlins in die Lübecker Straße 13, das Geburtshaus ihres großen Verwandten. Kocak wusste Bescheid, er hatte sich von seinem ältesten Sohn über Tucholsky ins Bild setzen lassen – schließlich hing seit dessen 70. Geburtstag eine Gedenktafel an dem Haus, in dem die Kocak-Familie links unten wohnte.
Der grausame 13. Februar 1945
Ismet Kocak, der gelegentlich unsanft an seine Herkunft erinnert wird, lud die Ostberlinerin freundlich ein und hörte still zu, als sie von der rassischen Verfolgung ihrer Familie erzählte: Onkel Hans in Chelm ermordet, Onkel Rudolf nach KZ-Einkerkerung ins Exil getrieben. Großtante Doris, die Tucholsky-Mutter aus der Lübecker Straße, in Theresienstadt ermordet, ihre Kinder allesamt vertrieben: Kurt nach Schweden, Fritz und Ellen in die USA.
Brigitte Rotherts Mutter Anne-Marie hätte ebenfalls um ein Haar in der Todesmaschinerie der Nazis das Leben verloren. Sie hatte 1925 den Dresdner Architekten Hans Jährig geheiratet, der sich alsbald als strammer Nazi gab und seine Frau verstieß. „Sie war Jüdin und die Kusine von Tucholsky – auch das war ein Scheidungsgrund“, glaubt Brigitte, die als Sechsjährige plötzlich ohne Vater dastand. Damit waren Mutter und Tochter, die eine nach den Nürnberger Gesetzen als „Volljüdin“, die andere als „Mischling ersten Grades“, den antisemitischen Repressionen ausgeliefert.
„Als die Sommerferien 1938 zu Ende waren, begann die Zeit, wegen der ich überhaupt dieses Buch geschrieben habe“, sagt Brigitte Rothert. Am Tag nach dem November-Pogrom sah sie tief erschrocken die verwüsteten jüdischen Geschäfte am Dresdner Altmarkt. Diese Bilder gruben sich auch deshalb in ihr Gedächtnis ein, weil ihre Mutter sie an diesem Tag über ihre „halbjüdische“ Herkunft aufklärte. Sie begriff allmählich, was es heißt, jüdisch zu sein. Bald erlebte sie mit, wie Onkel Rudolf kahl geschoren aus dem KZ kam und das Land verlassen musste. Der Mutter wurde im Februar 1939 die „Kennkarte“ mit dem „J“-Zeichen verordnet, Verhöre bei der Gestapo folgten.
„Mischling“ Brigitte bekam die Nazi-Barbarei ebenfalls zunehmend zu spüren. Als sie in der 4. Klasse eine Prüfung für einen höheren Bildungsweg bestand, bedeutete ihr der Lehrer höhnisch: „Du hast bestanden, aber aus rassischen Gründen wird du nicht aufgenommen.“ 1943 beendete sie die Volksschule, einen Beruf durfte sie nicht erlernen. Der Büroleiter der Klöckner-Moeller KG, der mit einem Lehrvertrag für Brigitte aufs Amt ging, wurde angebrüllt: „Was erlauben Sie sich, einen Mischling als Lehrling einzustellen.“ Während der Bombardierung wurde Mutter und Tochter der Zugang zum Luftschutzkeller verwehrt. Einer der wenigen Lichtblicke: In der Dreikönigskirche erlebte sie in der Kindergruppe unbeschwerte Stunden. Pfarrer Lange hat die „Halbjüdin“ auch konfirmiert, obwohl er damit ein großes Risiko einging.
Schatz in einem zerbeulten Koffer
Kaum waren Mutter und Tochter in das Judenhaus in der Zeughausstraße 1 verfrachtet worden, kam der grausamste Tag ihres Lebens. Am Morgen des 13. Februar erfuhr die Mutter, dass sie drei Tage später zum Transport anzutreten hatte. Als britische Bomber Dresden in der Nacht in ein Flammenmeer verwandelten, überlebten sie in den Katakomben der Brühlschen Terrasse. Und – welch bittere Ironie – der tausendfache Tod bedeutete für die Mutter die Rettung: Die Nazis konnten die Vernichtung der Dresdner Juden nicht vollenden.
Nach Kriegsende wurde der große Humanist Victor Klemperer zu einem wichtigen Bezugspunkt für Brigitte Rothert. Im Judenhaus über ihnen wohnend, hatte er die Familie getröstet, als der Transportbescheid eintraf. Nun waren sie häufig bei ihm zu Gast. Die Tochter nahm er oft zu Vorträgen mit, schenkte ihr, versehen mit Widmungen, sein großes Buch „LTI“ und Maupassants Novellen. In seinen Tagebüchern wird sie von ihrem väterlichen Freund viel Male genannt. Schließlich ermutigt Klemperer sie, ihren Traum, Lehrerin zu werden, zu verwirklichen. Nach einem Schnellkurs wurde sie Russischlehrerin.
Weiterbildung und Schulstress ließen ihr „wenig Zeit für anderes“, doch allmählich wandte sie sich ihrem großem Verwandten stärker zu. Ihre Mutter hatte ihr kurz vor dem großen Bombardement Tucholskys „Rheinsberg“ gezeigt: „ein verbotenes Buch von deinem Großcousin“. Sie zeigte ihr auch das einzige Foto, das sie selbst mit Kurt zeigt: ein großformatiges Familienbildnis von der Goldenen Hochzeit von Salomon und Rosalie Tucholsky 1906 in Berlin. Von ihrer Mutter erbte sie die Berliner fünfbändige Tucholsky-Ausgabe samt dem Lesebuch von Walther Victor. Bald erfuhr sie von Tucholskys Schwester Ellen Milo, die nach einer Flucht durch halb Europa in New York eine Heimat fand, manches für sie Neue über den populären Verwandten.
Nach einem Treffen in Berlin, der Westberliner Senat hatte Ellen Milo zu einer Zusammenkunft emigrierter Juden eingeladen, bedachte sie ihre Ostberliner Großkusine testamentarisch mit dem schriftlichen Nachlass – in Gestalt eines Reisekoffers. Doch lange sah es nicht so aus, als ob Brigitte Rothert ihr Erbe antreten könnte. Als sie mit der Liste der Bücher und anderer Zeugnisse im ZK der SED aufkreuzte, wurde ihr beschieden: Nein, das haben wir ja alles. Doch sie ließ nicht locker. Schließlich gelang es mit Hilfe vernünftiger DDR-Diplomaten, den Koffer gerade noch rechtzeitig nach Berlin zu holen – in New York war der Nachlassverwalter schon drauf und dran, sich ihr Erbe anzueignen.
Wenn sie heute den zerbeulten braunen Koffer – sein Foto ziert den Umschlag ihres Buches „Tucholskys Großkusine erinnert sich“ – anschaut, ist sie immer noch stolz auf ihren Coup. Schließlich waren darin einige wertvolle Tucholsky-Originale mit Widmungen. Im Sammelband „Lächeln der Mona Lisa“ zum Beispiel ist von Tucholskys Hand zu lesen: „Recht oder Unrecht – mein Land? Mein Land oder nicht mein Land – das Recht!“
Unverzichtbarer Antimilitarismus
Dieser Schatz, den sie unterdessen dem Tucholsky-Literaturmuseum in Rheinsberg testamentarisch vermachte, hat sie beflügelt, sich mit ihrem Großcousin intensiver zu befassen. Sie wurde aktives Mitglied der internationalen Kurt Tucholsky Gesellschaft und Anlaufpunkt vieler Autoren, die sich ihm biografisch nähern wollten. Dabei engagiert sie sich nicht nur wegen der Verwandtschaft: „Kurt steht mir mit seinem politischen Denken und seiner politischen Haltung sehr nahe“, sagt sie. Sein Antimilitarismus ist für sie unverzichtbar. So erregte sie sich vor einiger Zeit in einem Kommentar im Weltbühnen-Nachfolgeblatt „Ossietzky“ über die Äußerung des Hindukusch-Verteidigers Peter Struck, Tucholsky würde, wenn er noch lebte, die Auslandseinsätze der Bundeswehr für richtig halten.
Kein Wunder auch, dass sie an einigen Schulen wirkte, die den Namen Tucholskys tragen. Sechs sind es insgesamt in Deutschland: zwei in Berlin, je eine in Hamburg, Krefeld, Flensburg und Minden, wobei sie eine besonders enge Partnerschaft zur Kurt-Tucholsky-Gesamtschule Minden aufbaute. Von 1996 an war sie viele Male als willkommener Gast in der westfälischen Stadt, las Tucholsky, nahm an Debatten teil und freut sich über die Revuen der 2001 dort gegründeten Tucholsky-Bühne. Doch nun fällt der fast 80-Jährigen das Reisen schwerer. Generell beklagt sie, dass der Namensgeber an den meisten Tucholsky-Schulen allzu wenig präsent sei. Auch die Schließung der Berliner Tucholsky-Bibliothek kann sie absolut nicht verstehen.
Doch sonst ist die rührige Tucholsky-Sachwalterin mit der Resonanz ihres Großcousins nicht unzufrieden. Sie kommt mit dem Anschauen der vielen Tucholsky-Programme gar nicht hinterher. „Einerseits ist es sehr erfreulich, dass Kurt häufig im Munde geführt wird“, meint sie, „andererseits ist es sehr traurig, dass er nach 80 Jahren noch immer so aktuell ist.“
Brigitte Rothert, Tucholskys Großkusine erinnert sich, Leonhard-Thurneysser-Verlag Berlin & Basel, 261 S. mit zahlreichen Fotos, geb., 12,80 Euro, ISBN 10:3-9391176-44-3