Jüdische Schicksale und der 13. Februar 1945 in Dresden, Teil 2: Victor Klemperers Tagebuch

Unglück und Hoffnung, Rettung und Tod – die Extreme liegen dicht beieinander, für die verbliebenen Dresdner Juden am 13. Februar 1945 in Dresden: Am Vormittag wird der Deportationsbescheid überbracht und am Abend fallen die Bomben.

Grab von Eva und Victor Klemperer auf dem Friedhof in Dresden-Dölzschen

Teil 2: Victor Klemperer beschreibt am Nachmittag des 13. Februar 1945 das Austragen der Deportationsbescheide an einige der verbliebenen Dresdner Juden in seinem Tagebuch. Er selbst sollte nicht am 16.2. deportiert werden, auch wenn dies oft so kolportiert wird. Über eine Woche später folgt nach zwischenzeitlichen weiteren Tagebucheinträgen, die Beschreibung der Bombennacht, die für einen Teil der verbliebenen Juden die Rettung vor der Deportation darstellte. Klemperer verliert beim zweiten nächtlichen Angriff in den brennenden Straßen seine Frau Eva – sie finden sich erst am Morgen wieder. Er trifft beim Herumirren einen Holländer der angibt, aus dem „PPD“ geflohen zu sein – das Polizeipräsidium Dresden befand sich schon damals in der Schießgasse. Der geflohene Häftling sagt zu ihm, dass die anderen Gefangenen verbrennen. So ging es auch den über 400 politischen Gefangenen in der Mathildenstraße.

Unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945“ erschien dieser Teil Klemperers Tagebücher erst 1995 in Buchform und wurden als einzigartiges Zeugnis vom alltäglichen Terror der Nazizeit weithin bekannt. Geschrieben hatte er sie nicht nur unter Gefahr für das eigene Leben, sondern auch des Lebens seiner Frau Eva, sowie weiterer Personen, die an der Verwahrung der Manuskripte beteiligt waren, sowie der in diesen Texten zitierten Personen. Seine zweite Frau Hadwig entzifferte über Jahre hinweg die Aufzeichnungen und machte somit die Veröffentlichung erst möglich. Hadwig Klemperer starb am 22. September 2010 in Dresden, am 11. Februar 2010 hatte sie noch an der Feier zu Klemperers 50. Todestag in Dresden teilgenommen.

Victor Klemperer, Sohn eines Rabbiners, trat 1912 zur evangelischen Kirche über. Seine erste Ehe mit Eva Schlemmer und sein Status als Professor für Romanistik an der TU Dresden schützte ihn lange Zeit vor den schlimmsten Auswirkungen der Judenverfolgung. Neben seinen Tagebüchern wurde vor allem sein Buch „LTI“ über die Sprache des dritten Reiches berühmt.


Ausschnitt aus: Victor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945

13. Februar, Dienstag nachmittag bei vollkommenem Frühlingswetter

Odysseus bei Polyphem. – Gestern nachmittag ließ mich Neumark hinüberrufen; ich müßte heute vormittag beim Austragen von Briefen behilflich sein. Ich nahm das ahnungslos hin. Abends war Berger eine Weile bei mir oben, ich erzählte es ihm, und er sagte geärgert, das werde um Schanzarbeit gehen. Noch immer erfaßte ich nicht die Schwere der Bedrohung. Um acht Uhr war ich dann heute bei Neumark. Frau Jährig kam weinend aus seinem Zimmer. Dann sagte er mir: Evakuation für alle Einsatzfähigen, es nennt sich auswärtiger Arbeitseinsatz, ich selber als Entpflichteter bliebe hier. Ich: Also für mich sicherer das Ende als für die Herausgehenden. Er: Das sei nicht gesagt, im Gegenteil gelte das Hierbleiben als Vergüngstigung; es bleibe ein Mann, dem zwei Söhne im ersten Weltkrieg gefallen, ferner er, Neumark, weiter Katz (wohl als EK-I-Träger, nicht als Arzt, denn Simon kommt fort), Waldmann und ein paar Schwerkranke und Entpflichtete. Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen, später war ich dann vollkommen stumpf, d.h. ich beobachtete für mein Tagebuch. Das auszutragende Rundschreiben besagt, man habe sich am Freitag früh im Arbeitsanzug mit Handgepäck, das eine längere Strecke zu tragen sei, und mit Proviant für zwei bis drei Reisetage in der Zeughausstraße 3 einzufinden. Vermögens-. Möbel- etc. Beschlagnahme findet diesmal nicht statt, das ganze ist ausdrücklich nur auswärtiger Arbeitseinsatz – wird aber durchweg als Marsch in den Tod aufgefaßt. Dabei kommen die grausamsten Zerreißungen vor: Frau Eisenmann und Schorschi bleiben hier, Lisl, die elfjährigen Sternträgerin, muß mit Vater und Herbert fort. Man nimmt auf Alter weder nach oben noch nach unten, weder auf siebzig noch auf sieben Rücksicht – es ist unbegreiflich, was man unter „arbeitsfähig“ versteht. – Ich hatte erst Frau Stühler zu benachrichtigen, sie erschrak wilder als über den Tod des Mannes und raste mit starren Augen fort, Freunde für ihren Bernhard zu alarmieren. Dann fuhr ich, ich durfte fahren, mit einer Liste von neun Namen ins Bahnhof- und Strehlener Viertel. Simon, nur erst halb bekleidet, bewahrte gute Fassung, während seine sonst robuste Frau fast zusammenbrach. Frau Gaehde in der Sedanstraße, sehr gealtert, riß die Augen übermäßig auf, öffnete immer wieder den Mund so weit, daß das vorgehaltene Taschentuch fast darin verschwand, und protestierte wild mit krampfhaftem Mienenspiel und leidenschaftlicher Betonung: Sie werde bis zum letzten gegen diese Verordnung kämpfen, sie könne nicht fort von ihrem zehnjährigen Enkel, ihrem siebzigjährigen Mann, ihr Schwiegersohn sei im Ausland gefangen „um der deutschen, der deutschen Sache willen“, sie werde kämpfen usw. Frau Kreisler-Weidlich, vor deren Hysterie ich mich gefürchtet hatte, war nicht zu Hause, ich warf das Blatt erleichtert in den Briefkasten. In derselben Franklinstraße hatte ich noch eine Frau Pürckhauer aufzusuchen. Ich traf sie mit ihrem arischen und tauben Mann. Kleine Leute. Sie waren die ruhigsten von denen meiner Liste. Schlimm war trotz ihrer Beherrschtheit eine Frau Grosse in der Renkstraße, hübsches Villenhaus an der Lukaskirche. Eine Frau mittleren Alters, eher damenhaft; sie wollte ihren Mann anrufen, stand hilflos am Telefon: „Ich habe alles vergessen,er arbeitet in einer Konfitürenfirma… mein armer Mann, er ist krank, mein armer Mann… ich selber bin so herzleidend…“ Ich sprach ihr zu, es würde vielleicht nicht so schlimm, es könne nicht lange dauern, die Russen stünden bei Görlitz, die Brücken hier seien unterminiert, sie solle nicht an Tod denken, nicht von Selbstmord reden… Ich bekam endlich die notwendige Empfangsunterschrift und ging. Kaum hatte ich die Korridortür geschlossen, hörte ich sie laut weinen. Ungleich jämmerlicher noch der Fall Bitterwolf in der Struvestraße. Ebenfalls ein armseliges Haus; ich studierte gerade vergeblich die Namenstafel im Hausflur, als eine junge blonde, stupsnasige Frau mit einem niedlichen, gutgehaltenen Mädelchen von vielleicht vier Jahren kam. Ob hier eine Frau Bitterwolf wohne? Das sei sie selber. Ich müsse ihr eine böse Mitteilung machen. Sie las das Schreiben, sagte ganz ratlos mehrmals: „Was soll aus dem Kind werden?“, unterschrieb dann still mit einem Bleistift. Inzwischen drängte sich das Kind an mich, reichte mir seinen Teddybär und erklärte strahlend vergnügt: „Mein Teddy, mein Teddy, sieh mal!“ Die Frau ging dann mit dem Kind stumm die Treppe hinauf. Gleich darauf hörte ich sie laut weinen. Das Weinen hielt an.-

Die Dresdner Vernichtung
am 13. und 14. (Dienstag, Mittwoch) Februar 1945

Piskowitz, 22.-24. Februar

Wir setzten uns am Dienstag abend gegen halb zehn zum Kaffee, sehr abgekämpft und bedrückt, denn tagüber war ich ja als Hiobsbote herumgelaufen, und abends hatte mir Waldmann aufs bestimmteste versichert (aus Erfahrung und neuerdings aufgeschnappten Äußerungen), daß die am Freitag zu Deportierenden in den Tod geschickt („auf ein Nebengleis geschoben“) würden, und daß wir Zurückbleibenden acht Tage später ebenso beseitigt werden würden – da kam Vollalarm. „Wenn sie doch alles zerschmissen!“ sagte erbittert Frau Stühler, die den ganzen Tag herumgejagt war, und offenbar vergeblich, um ihren Jungen freizubekommen. – Wäre es nur bei diesem ersten Angriff geblieben, er hätte sich mir als der bisher schrecklichste eingeprägt, während er sich jetzt, von der späteren Katastrophe überlagert, schon zu allgemeinem Umriß verwischt. Man hörte sehr bald das immer tiefere und lautere Summen nahender Geschwader, das Licht ging aus, ein Krachen in der Nähe… Pause des Atemholens, man kniete geduckt zwischen den Stühlen, aus einigen Gruppen Wimmern und Weinen – neues Herankommen, neue Beengung der Todesgefahr, neuer Einschlag. Ich weiß nicht, wie oft sich das wiederholte. Plötzlich sprang das dem Eingang gegenüber gelegene Kellerfenster der Rückwand auf, und draußen war es taghell. Jemand rief: „Brandbombe, wir müssen löschen!“ Zwei Leute schafften auch die Spritze heran und arbeiteten hörbar. Es kamen neue Einschläge, aber vom Hofe her ereignete sich nichts. Und dann wurde es ruhiger, und dann kam Entwarnung. Zeitgefühl war mir verlorengegangen. Draußen war es taghell. Am Pirnaischen Platz, in der Marschallstraße und irgendwo an oder über der Elbe brannte es lichterloh. Der Boden war mit Scherben bedeckt. Ein furchtbarer Sturmwind blies. Natürlicher oder Flammensturm? Wohl beides. Im Treppenhaus der Zeughausstraße 1 waren die Fensterrahmen eingedrückt und lagen z.T. hindernd auf den Treppen. Bei uns oben Scherben. Fenster eingedrückt auf der Diele und nach der Elbe hin, im Schlafzimmer nur eines; auch in der Küche Fenster zerbrochen, Verdunkelung entzwei. Licht versagte, Wasser fehlte. Man sah große Brände über der Elbe und an der Marschallstraße. Frau Cohn berichtete, in ihrem Zimmer seien Möbel vom Luftdruck verrückt. Wir stellten eine Kerze auf den Tisch, tranken ein bißchen kalten Kaffee aßen ein paar Brocken, tappten durch die Scherben, legten uns zu Bett. Es war nach Mitternacht – heraufgekommen waren wir um elf -, ich dachte: Nur schlafen, das Leben ist gerettet, für heute nacht werden wir Ruhe haben, jetzt nur die Nerven beruhigen! Eva sagte im Hinlegen: „Das sind doch Scherben in meinem Bett!“ – Ich hörte sie aufstehen, räumen, dann schlief ich schon. Nach einer Weile, es muß nach ein Uhr gewesen sein, sagte Eva: „Alarm.“ – „Ich habe nichts gehört.“ – „Bestimmt. Es ist leise gewesen, sie fahren Handsirenen herum, Strom fehlt.“ – Wir standen auf, Frau Stühler rief an unserer Tür „Alarm“, Eva klopfte bei Frau Cohn an – von beiden haben wir nichts mehr gehört – und eilten hinunter. Die Straße war taghell und fast leer, es brannte, der Sturm blies wie vorher. Vor der Mauer zwischen den beiden Zeughausstraßen-Häusern (der Mauer des einstigen Synagogenhofes mit den Baracken dahinter) stand wie gewöhnlich ein Stahlhelmposten. Ich fragte im Vorbeigehen, ob Alarm sei. – „Ja.“ – Eva war zwei Schritte vor mir. Wir kamen in den Hausflur der Nr.3. Indem ein schwerer naher Einschlag. Ich drückte mich kniend an die Wand in der Nähe der Hoftür. Als ich aufsah, war Eva verschwunden, ich glaubte sie in unserem Keller. Es war ruhig, ich stürzte über den Hof in unseren Judenkeller. Die Tür klaffte. Eine Gruppe Leute kauerte wimmernd rechts der Tür, ich kniete links dicht am Fenster. Ich rief mehrmals nach Eva. Keine Antwort. Schwere Einschläge. Wieder sprang das Fenster an der Wand gegenüber auf, wieder Taghelle, wieder wurde gespritzt. Dann ein Schlag am Fenster neben mir, etwas schlug heftig und glutheiß an meine rechte Gesichtsseite. Ich griff hin, die Hand war voller Blut, ich tastete das Auge ab, es war noch da. Eine Gruppe Russen – wo kamen sie her? – drängte zur Tür hinaus. Ich sprang zu ihnen. Den Rucksack hatte ich auf dem Rücken, die graue Tasche mit unseren Manuskripten und Evas Schmuck in der Hand, der alte Hut war mir entfallen. Ich stolperte und fiel. Ein Russe hob mich auf. Seitlich war eine Wölbung, weiß Gott, welcher schon halb zerstörte Keller. Da drängte man herein. Es war heiß. Die Russen liefen in irgendeiner andern Richtung weiter, ich mit ihnen. Nun stand man in einem offenen Gang, geduckt, zusammengedrängt. Vor mir lag ein unkenntlicher großer freier Platz, mitten in ihm ein ungeheurer Trichter. Krachen, Taghelle, Einschläge. Ich dachte nichts, ich hatte nicht einmal Angst, es war bloß eine ungeheure Spannung in mir, ich glaube, ich erwartete das Ende. Nach einem Augenblick kletterte ich über irgendein Gewölbe oder eine Brüstung oder Stufe ins Freie, stürzte mich in den Trichter, lag ein Weilchen platt an den Boden gedrückt, kletterte dann den Trichter aufwärts, über einen Rand in ein Telefonhäuschen. Jemand rief: „Hierher, Herr Klemperer!“ In dem demolierten Aborthäuschen nebenan stand Eisenmann sen., Schorschi auf dem Arm. „Ich weiß nicht, wo meine Frau ist.“ – „Ich weiß nicht, wo meine Frau und die andern Kinder sind.“ – „Es wird zu heiß, die Holzverschalung brennt… drüben, die Halle der Reichsbank!“ Wir rannten in eine flammenumgebene, aber fest aussehende Halle. Die Bombeneinschläge schienen für hier vorüber, aber ringsum flammte alles lichterloh. Ich konnte das Einzelne nicht unterscheiden, ich sah nur überall Flammen, hörte den Lärm des Feuers und des Sturms, empfand die fürchterliche innere Spannung. Nach einer Weile sagte Eisenmann: „Wir müssen zur Elbe herunter, wir werden durchkommen.“ Er lief mit dem Kind auf der Schulter abwärts; nach fünf Schritten war mein Atem weg, ich konnte nicht folgen. Eine Gruppe Leute kletterte die Anlagen hinauf zur Brühlterrasse; es ging dicht an Bränden vorbei, aber oben mußte es sich kühler und freier atmen lassen. Ich stand dann oben, im Sturmwind und Funkenregen. Rechts und links flammten Gebäude, das Belvedere und – wahrscheinlich – die Kunstakademie. Immer wenn der Funkenregen an einer Seite zu stark wurde, wich ich nach der anderen zu aus. Im weiteren Umkreis nichts als Brände. Diesseits der Elbe besonders hervorragend als Fackel der hohe Aufbau am Pirnaischen Platz, jenseits der Elbe weißglühend, taghell das Dach des Finanzministeriums. Allmählich kamen mir Gedanken. War Eva verloren, hatte sie sich retten können, hatte ich zu wenig an sie gedacht? Ich hatte die Wolldecke – eine, die andere war mir wohl mit dem Hut verlorengegangen – um Kopf und Schultern gezogen, sie verdeckte auch den Stern, ich trug in den Händern die kostbare Tasche und – richtig, auch den Lederhandkoffer mit Evas Wollsachen, wie ich den bei all der Kletterei festgehalten habe, ist mir rätselhaft. Der Sturm riß immer wieder an meiner Decke, tat mir am Kopf weh. Es hatte zu regnen begonnen, der Boden war naß und weich, dort mochte ich nichts hinstellen, so hatte ich schwere körperliche Anstrengung, und das betäubte wohl und lenkte ab. Aber zwischendurch war immer wieder als dumpfer Druck und Gewissenstich da, was mit Eva sei, warum ich nicht genug an sie dächte. Manchmal meinte ich: Sie ist geschickter und mutiger, sie wird in Sicherheit sein; manchmal: Wenn sie wenigstens nicht gelitten hat! Dann wieder bloß: Wenn die Nacht vorüber wäre! Einmal bat ich Leute, meine Sachen einen Moment auf ihre Kiste stellen zu dürfen, um mir die Decke zurechtziehen zu können. Einmal sprach mich ein Mann an: „Sie sind doch auch Jude? Ich wohne seit gestern in ihrem Haus“ – Löwenstamm. Seine Frau reichte mir eine Serviette, mit der ich mein Gesicht verbinden sollte. Der Verband hielt nicht, ich habe die Serviette dann als Taschentuch benutzt. Ein andermal kam ein junger Mensch an mich heran, der sich die Hosen festhielt. In gebrochenem Deutsch: Holländer, gefangen (daher ohne Hosenträger) im PPD. „Ausgerissen – die andern verbrennen im Gefängnis.“ Es regnete, es stürmte, ich kletterte ein Stück hinauf bis an die z.T. abgestürzte Brüstung der Terrasse, ich kletterte wieder hinunter in Windschutz, es regnete immerfort, der Boden war glitschig, Menschengruppen standen und saßen, das Belvedere brannte, die Kunstakademie brannte, überall in der Ferne war Feuer – ich war durchaus dumpf. Ich dachte gar nichts, es tauchten nur Fetzen auf. Eva – warum sorge ich mich nicht ständig um sie – warum kann ich nichts im Einzelnen beobachten, sondern sehe nur immer das Bühnenfeuer zur Rechten und zur Linken, die brennenden Balken und Fetzen und Dachsparren in und über den steinernen Mauern? Aber die meiste Zeit stand ich wie im Halbschlaf und wartete auf die Dämmerung. Sehr spät fiel mir ein, mein Gepäck zwischen die Zweige eines Buschs zu klemmen: Da konnte ich etwas freier stehen und meine Schutzdecke etwas besser zusammenhalten. (Den Lederkoffer übrigens hat doch Eva gehabt; immerhin waren die Tasche und der Rucksack beschwerend genug.) Das verkrustete Wundgefühl um das Auge herum, das Reiben der Decke, die Nässe wirkten auch betäubend. Ich war ohne Zeitgefühl, es dauerte endlos und dauerte gar nicht so lange, da dämmerte es. Das Brennen ging immer weiter. Rechts und links war mir der Weg nach wie vor gesperrt – ich dachte immer: Jetzt noch zu verunglücken wäre jämmerlich. Irgendein Turm glühte dunkelrot, das hohe Haus mit dem Türmchen am Pirnaischen Platz schien stürzen zu wollen – ich habe aber den Einsturz nicht gesehen -, das Ministerium drüben brannte silberblendend. Es wurde heller, und ich sah einen Menschenstrom auf der Straße an der Elbe. Aber ich getraute mich noch immer nicht hinunter. Schließlich, wohl gegen sieben, die Terrasse – die den Juden verbotene Terrasse – war schon ziemlich leer geworden, ging ich an dem immerfort brennenden Belvedere-Gehäuse vorbei und kam an die Terrassenmauer. Eine Reihe Leute saß dort. Nach einer Minute wurde ich angerufen: Eva saß unversehrt in ihrem Pelz auf dem Handkoffer. Wir begrüßten uns sehr herzlich, und der Verlust unserer Habe war uns vollkommen gleichgültig, und ist es uns auch heute noch. Eva war in dem kritischen Moment aus dem Flur der Zeughausstraße 3 von irgend jemandem buchstäblich in den arischen Luftkeller heruntergerissen worden, sie war durch das Kellerfenster auf die Straße gelangt, hatte beide Häuser 1 und 3 in vollen Flammen gesehen, war eine Weile im Keller des Albertinums gewesen, dann durch den Qualm an die Elbe gelangt, hatte die weitere Nacht teils elbaufwärts mich gesucht, dabei die Vernichtung des Thammhauses (also unseres gesamten Mobiliars) festgestellt, teils in einem Keller unter dem Belvedere gesessen. Einmal auf ihrem Suchweg hatte sie eine Zigarette anzünden wollen und keine Streichhölzer gehabt; am Boden glühte ein Stück, sie wollte es benutzen – es war ein brennender Leichnam. Im ganzen hatte sich Eva viel besser gehalten als ich, viel ruhiger beobachtet und sich selber dirigiert, trotzdem ihr beim Herausklettern Bretter eines Fensterflügels an den Kopf gefallen waren. (Zum Glück war er dick und blieb unverletzt.) Der Unterschied: Sie handelte und beobachtete, ich folgte meinem Instinkt, anderen Leuten und sah gar nichts. Nun war es also Mittwoch morgen, den 14.2., und wir hatten das Leben gerettet und waren beisammen.

Wir standen noch nach der ersten Begrüßung zusammen, da tauchte Eisenmann mit Schorschi auf. Seine andern Angehörigen hatte er nicht gefunden. Er war so herunter, daß er zu weinen anfing: „Gleich wird das Kind Frühstück verlangen – was soll ich ihm geben?“ Dann faßte er sich. Wir müßten unsre Leute zu treffen versuchen, ich müßte den Stern entfernen, so wie er den seinen schon abgemacht hätte. Darauf riß Eva mit einem Taschenmesserchen die Stella von meinem Mantel. Dann schlug Eisenmann vor, zum jüdischen Friedhof zu gehen. Der würde unversehrt sein und Treffpunkt bilden. Er zog voran, wir verloren ihn bald aus den Augen, und seitdem blieb er für uns verschwunden.

Wir gingen langsam, denn ich trug beide Taschen, und die Glieder schmerzten, das Ufer entlang bis über die Vogelwiese hinaus. Ober war Haus bei Haus angebrannte Ruine. Hier unten am Fluß, wo sich viele Menschen bewegten oder hingelagert hatten, staken im durchwühlten Boden massenhaft die leeren, eckigen Hülsen der Stabbrandbomben. Aus vielen Häusern der Straße oben schlugen immer noch Flammen. Bisweilen lagen, klein und im wesentlichen Kleiderbündel, Tote auf den Weg gestreut. Einem war der Schädel weggerissen, der Kopf war oben eine dunkelrote Schale. Einmal lag ein Arm da mit einer bleichen, nicht unschönen Hand, wie man so ein Stück in Friseurschaufenstern aus Wachs geformt sieht. Metallgerippe vernichteter Wagen, ausgebrannte Schuppen. Die Menschen weiter draußen hatten z.T. wohl einiges retten können, sie führten Bettzeug und ähnliches auf Karren mit sich oder saßen auf Kisten und Ballen. Zwischen diesen Inseln hindurch, an den Leichen und Wagentrümmern vorbei, strömte immerfort Verkehr, Elbe auf- und abwärts, ein stiller, erregter Korso. Wir bogen neuerlich – ich überließ mich Evas Führung und weiß nicht, wo – rechts zur Stadt hin. Jedes Haus eine Brandruine, aber häufig Menschen davor mit gerettetem Hausrat. Immer wieder noch unversiegte Brände. Nirgends die Spur einer Löschtätigkeit. Eva sagte: „Das Lämmchen“, „der Fürstenplatz“. Erst als wir an die Krankenhäuser kamen, orientierte ich mich. Das Bürgerspital schien nur noch Kulisse, das Krankenhaus bloß teilweise getroffen. Wir traten in den jüdischen Friedhof. Von dem Haus, das die Leichenhalle und Jacobis kleine Wohnung enthalten hatte, stand dachlos das äußere Gemäuer, dazwischen sah man ein tiefes Loch im nackten Erdboden, sonst gar nichts, alles war vollkommen vertilgt. Merkwürdig klein wirkte dieser Raum; rätselhaft, wie er die Halle, die Wohnung und noch einige Nebenräume enthalten hatte. Ich ging die Allee hinunter zu dem Gärtnerschuppen, in dem ich Steinitz, Schein und Magnus oft beim Skat getroffen hatte. Viele Grabsteine und -platten waren umgeworfen oder beiseite geschoben, viele Bäume geknickt, manche Gräber wie angewühlt. (Wir fanden nachher noch in einer ziemlich entfernten Straße ein Stück Grabstein, Sara… war darauf zu entziffern.) Der Gärtnerschuppen stand kaum beschädigt – aber nirgends war ein Mensch zu sehen. Einen Keller hat es auf dem Friedhof nicht gegeben – was mag aus Jacobi uns einer Familie geworden sein? –

Wir wollten nun nach der Borsbergstraße zu Katz, teils um Anschluß zu finden, teils meines Auges halber, aber überall in den Straßen war Schutt und rauchiger Staub, überall brannten noch einzelne Häuser. Als eines davon wenige Schritte vor uns in sich zusammenstürzte, natürlich mit ungemeiner Staubentwicklung, gaben wir den Versuch auf. Langsam, mit vielen Pausen, sehr erschöpft, gingen wir den gleichen Weg zurück, den wir gekommen. Dort flutete der gleiche Korso wie zuvor. Dann suchten wir noch am Platz vor der Zeughausstraße, ob sich dort jemand von den unsrigen finde. Die Zeughausstraße 3 war ein einziger Geröllhaufen, von der Zeughausstraße 1 stand, der Stadt zugekehrt, ein Vorderpfeiler mit einem Stückchen Mauer galgenartig daran hängend. Das ragte gespenstisch und gefährlich und verstärkte nur das Bild der absoluten Zerstörung. Wieder kein Mensch. Wir lagerten uns nun an der Außenmauer der Brühlterrasse, Schmalseite. Wir fanden dort Waldmanns und Witkowskys, dazu ein älteres Ehepaar Fleischner. Waldmann rühmte sich, einige vierzig Leute, Juden und Arier, aus der Zeughausstraße 1 gerettet zu haben, dort sei niemand umgekommen. Er wußte auch von irgendwoher, daß die Ménages Steinitz und Magnus heil seien – von allen andern wußte er nichts. Sehr merkwürdig berührte es mich, daß sich der ganz verlorene Witkowsky zäh und agil unter den Lebenden befand.

Auf dem Platz vor uns hielt ein Sanitätsautomobil; Menschen umlagerten es, Bahren mit Verwundeten lagen in seiner Nähe am Boden. Auf einem Bänkchen beim Eingang des Autos machte ein Sanitäter Augeneintropfungen; mehr oder minder mitgenommene Augen waren überaus häufig. Ich kam rasch an die Reihe. „Nu, Vater, ich tu Ihnen nicht weh!“ Mit der Kante eines Papierstückchens holte er einigen Unrat aus dem verletzten Auge, machte dann eine ätzende Eintropfung in beide Augen. Ich ging, ein wenig erleichtert, langsam zurück; nach wenigen Schritten hörte ich über mir das bösartig stärker werdende Summen eines rasch näher kommenden und herunterstoßenden Flugzeugs. Ich lief rasch auf die Mauer zu, es lagen schon mehr Menschen dort, warf mich zu Boden, den Kopf gegen die Mauer, das Gesicht in die Arme gelegt. Schon krachte es, und Kiesgeröll rieselte auf mich herab. Ich lag noch eine Weile, ich dachte: „Nur jetzt nicht noch nachträglich krepieren!“ Es gab noch einige entferntere Einschläge, dann wurde es still.-

Ich stand auf, da war Eva inzwischen verschwunden. Fleischners hatten sie eben noch gesehen, ein Unheil hatte sich hier nicht ereignet: So war ich nicht sonderlich besorgt. Immerhin dauerte es wohl zwei Stunden, bis wir uns wieder trafen. Eva hatte beim ersten Bombenabwurf wie ich an der Mauer in Deckung gelegen, nachher einen Keller an der Elbe aufgesucht. Ich suchte sie längs der Mauer, dann mit Waldmann zusammen im Albertinum, ich hinterließ an der Mauer sozusagen meine Adresse einem neu aufgetauchten Graukopf, mit dem ich Waldmann in behaglichem Gespräch gefunden. „Leuschners Schwager.“ – „Er muß doch wissen, daß Sie und ich einen Stern getragen haben.“ – „Das ist doch jetzt ganz egal! Alle Listen sind vernichtet, die Gestapo hat anderes zu tun, und in vierzehn Tagen ist sowieso alles zu Ende!“ Das war Waldmanns in den nächsten Tagen ständig wiederholte Überzeugung, Löwenstamm und Witkowsky urteilten ebenso. Der Schwager Leuschner jedenfalls blieb harmlos, ich plauderte in der Nacht noch wiederholt mit ihm, und am nächsten Morgen reichten wir uns die Hand zum Abschied.

Sehr spät in der Nacht oder schon gegen Morgen kam Witkowsky aufgeregt zu mir: „Wir werden alle herausgeschafft, nach Meißen, nach Klotzsche.“ Ich weckte Eva, sie war einverstanden, es dauerte aber eine Weile, ehe sie fertig war. Da hieß es, der Wagen sei voll, es würden aber in kurzen Abständen weitere folgen. Wir blieben draußen auf der Bank vor dem Keller – drin war heiße dicke Luft. Wir hörten die geschichte eines jungen Menschen, der mit seinem Amt von Czenstochau hierhin geschafft worden war, und nun war hier seine Amtsstelle mit dem Rest seiner Habe untergegangen. Wir saßen lange, es dämerte. Dann stand wieder ein Wagen bereit, man schaffte mehrere Kranke auf Bahren hinein, preßte dann uns Gesunde dazwischen und in den Hintergrund. Eine holprige Fahrt an Ruinen und Bränden vorüber. Genaues konnte ich von meinem Sitz aus nicht sehen, aber jenseits des Alberplatzes hörte die restlose Zerstörung auf. Ziemlich früh am Morgen des Donnerstag waren wir dann im Fliegerhorst.

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