Bericht von der audio-visuellen Mahnwache in Gedenken an den 9. November in Dresden

Am 9. November 2010 hat der AK Antifa mit einer achtstündigen audio-visuellen Mahnwache auf den Jahrestag der Reichpogromnacht am 9. November 1938 aufmerksam gemacht.

Währenddessen gedachten 200 Dresdner bei der offiziellen Gedenkveranstaltung mit Oberbürgermeisterin Helma Orosz an der Synagoge ebenso der Reichspogromnacht.


Wer schweigt, stimmt zu.

GEGEN DAS SCHWEIGEN!

Der 9. November ist für die Deutschen ein Tag zum Feiern. 1989 leitete die Wiedereinführung der Reisefreiheit durch die SED-Führung den Fall der Berliner Mauer ein. Dem voraus gingen u.a. die sogenannten Montagsdemonstrationen in Leipzig. Der 20. Jahrestag dessen, was heute gemeinhin als „friedliche Revolution“ bekannt ist, war im letzten Jahr ein Grund für mehrere 10.000 Deutsche auf die Straße zu gehen, zu feiern und zur nationalen Selbstinszenierung beizutragen.

51 Jahre zuvor, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden in Deutschland etwa 400 Menschen ermordet. In der Reichspogromnacht brannten SA-Truppen über 1400 jüdische Gemeindehäuser und Synagogen nieder, zerstörten und plünderten deutsche Bürgerinnen und Bürger über 7.500 jüdische Geschäfte. Auch durch Dresden zog ein von der SA organisierter antisemitischer Mob, schmiss Geschäften von Jüd_innen auf der Prager Straße die Schaufenster ein und verwüstete die Läden. Der Brand der Synagoge wurde auch in Dresden nicht gelöscht, aber von umstehenden Bürger_innen geduldet oder gar bejubelt. Die Reichspogromnacht muss als weiterer bedeutender Schritt in Richtung der industriellen Massenvernichtung von Jüd_innen durch die Nazis gesehen werden. 2009 schafften es neben einer antifaschistischen Demonstration nur wenige hundert Dresdener_innen zu Gedenkveranstaltungen an diese menschenverachtende Tat.

Am heutigen Tag hatte der AK Antifa eine „audiovisuelle Mahnwache“ in Gedenken an den 9.November 1938 organisiert. Auf dem Dr.-Külz-Ring in der Dresdener Innenstadt, direkt inmitten der vielen Kaufhäuser und Passagen fand diese zwischen 12 und 20 Uhr statt. In verschiedenen Liedern und gesprochenen Hörbeiträgen wurde die Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch Nazi-Deutschland thematisiert. Zu hören waren Erlebnisberichte über die Reichspogromnacht, die Deportationen und die Konzentrations- und Vernichtungslager. Der Kontakt mit den konkreten Schicksalen Einzelner machte das Grauen dem Jüdinnen und Juden ausgesetzt waren eindrucksvoll deutlich und ließ emotionale Bezüge entstehen. Gleichzeitig lief in einem Pavillon ein Zusammenschnitt aus Bildern und Filmsequenzen, der zur Verdeutlichung der Auswüchse des damaligen Antisemitismus beitrug.

Die Aktionsform war durchaus geeignet, um einen Einschnitt in die sonst alltäglich gleiche Szenerie der Dresdener Innenstadt zu schaffen und Touristen, sowie Einkaufende auf unser Anliegen aufmerksam zu machen. Die lange Dauer dieser Kundgebung, fast 2000 verteilte Flyer und eine Vielzahl von Gesprächen mit Passant_innen bewirkten, dass zumindest bei denjenigen, die heute in der Innenstadt unterwegs waren das Thema präsent wurde. Wir sehen daher, dass unser Bedürfnis diese Geschehnisse nicht in Vergessenheit geraten zu lassen erfolgreich vermittelt worden ist. Jedoch bleibt auch festzustellen, dass verschiedene Menschen unterschiedlichste Reaktionen auf die Konfrontation mit der Reichspogromnacht zeigten, von denen einige Grund zur Sorge bieten. Vor allem unter jungen Menschen waren zum Teil haarsträubende Kommentare zu hören. Tatsächlich geschmacklose Pöbeleien machen deutlich, dass Antisemitismus in Deutschland längst noch nicht Geschichte ist und lassen derlei Aktionen wie die heutige umso wichtiger werden. Der überwiegende Anteil der Menschen jedoch zeigte Interesse an unserer Forderung nach einem Mahnen und Gedenken an die Nazi-Verbrechen, viele würdigten und lobten die Kundgebung.

Traurig bleibt jedoch auch in diesem Jahr, dass aus der gesellschaftlichen Mitte wieder vergleichsweise wenige Menschen den Anlass zum Grund nahmen, eigene inhaltliche Akzente zu setzen und die Erinnerung wachzuhalten. Ungleich mehr Bürger_innen sind zu den Jahrestagen der Bombardierung Dresdens am 13.Februar auf den Straßen unterwegs. Viele von denen, die an diesem Tag zu Gottesdiensten, zu einer Menschenkette oder anderen Gedenkveranstaltungen gehen um an Krieg und Leid zu erinnern und solches in Zukunft verhindern wollen, sollten sich die notwendige Ableitung aus diesen Wünschen deutlich vor Augen halten. Die Parole „Nie wieder Krieg“ kann nur hinter der Parole „Nie wieder Faschismus“ stehen. Für die Meisten, die am 13.02. zu einer der oben genannten Veranstaltungen gehen ist ein Bekenntnis gegen alte und neue Nazis, gegen Rassismus und Antisemitismus selbstverständlich. Was aber bedeutet dieses Bekenntnis, wenn es diese Leute dann doch nur an dem (Jahres-)Tag auf die Straße zieht, an dem Dresden, eine nationalsozialistische Stadt, bombardiert wurde? Wer es mit seinem/ihrem Engagement gegen Antisemitismus und Faschismus, gegen nationalistische Bewegungen und gegen Leid und Krieg ernst meint, sollte sich nicht nur den 13. Februar heraussuchen, um dieses zu demonstrieren. Wer sich wirklich dafür einsetzen will, dass „so etwas nie wieder geschieht“, muss auch die Erinnerung an die tatsächlichen Opfer dieser Zeit wachhalten. Denn dies bildet einen wichtigen Bestandteil im Kampf gegen reaktionäre Ideologie und Tendenzen, sowie für gesellschaftliche Emanzipation.

Wir fordern daher eine weitreichende Veränderung in der Dresdener Erinnerungskultur. Der antifaschistische Konsens der bürgerlichen Gesellschaft darf kein Lippenbekenntnis sein. Die Kontextualisierung und die Anerkennung der deutschen Schuld, die leise in das Dresdener Gedenken Einzug hält, ist immer noch nicht richtig angekommen. Ganz praktisch würde diese nämlich bedeuten sich mit denjenigen zu solidarisieren, die unter dieser Schuld zu leiden hatten, den Opfern zu gedenken und dies auch zu zeigen. So sollten die vielen Tausend vom 13.02. auch an Tagen, wie dem 9.11., dem 27.01. oder dem 01.09. auf die Straße gehen, wenn Sie Opfern des Krieges, Opfern des deutschen Antisemitismus‘ gedenken oder gegen Leid und Tod demonstrieren wollen.

Für uns ist und bleibt der 9. November kein Tag zum Feiern. Wir werden weiter gegen die Schieflage im Dresdener Gedenkdiskurs, in der Dresdener Erinnerungskultur angehen. Für einen antifaschistischen Gesellschaftskonsens – gegen das Schweigen!


Dresdner Neueste Nachrichten, 10. November 2010

Sachsen

Menschen in Dresden und ganz Sachsen gedenken der Opfer der Pogromnacht

In Dresden versammelten sich an der Synagoge am Hasenberg zahlreiche Menschen, um den Opfern der Pogromnacht zu gedenken.   Foto: dpa

In Dresden versammelten sich an der Synagoge am Hasenberg zahlreiche Menschen, um den Opfern der Pogromnacht zu gedenken. Dresden. Mit Gedenkveranstaltungen in zahlreichen Orten haben am Dienstag die Sachsen an die Opfer der Pogromnacht von 1938 erinnert. Traditioneller Ort des Gedenkens war in der Landeshauptstadt Dresden der ehemalige Standort der Dresdner Synagoge am Hasenberg. In Leipzig versammelten sich nach einer Kranzniederlegung und dem Friedensgebet in der Nikolaikirche zahlreiche Bürger zur Gedenkfeier an der Gedenkstätte Gottschedstraße, dem ehemaligen Standort der Synagoge. Am Abend sollte der Leiter des Instituts für Jüdische Studien der Universität Basel, Alfred Bodenheimer, bei einem Gedenken in der Thomaskirche sprechen. In der Pogromnacht 1938 waren in ganz Deutschland auf Veranlassung der Nationalsozialisten zahlreiche Synagogen angezündet und jüdische Geschäfte geplündert und zerstört worden.

In Chemnitz betonte Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) laut einer Mitteilung, „mit dem Gedenken an diese Nacht vor mehr als 70 Jahren geht für immer die Mahnung einher, dass wir für einander verantwortlich sind. Dass wir es nicht erlauben dürfen, wenn Menschen ihrer Überzeugung, ihres Glaubens oder ihrer Meinung wegen ausgegrenzt oder sogar verfolgt werden.“

In Riesa erinnerten Vertreter von Stadt, Vereinen und Schulen an die Opfer der Pogromnacht. An der Stätte des einstigen Kaufhauses der jüdischen Familie Lenczynski wurden eine Gedenktafel enthüllt und brennende Kerzen abgestellt. An dem Gedenken nahmen laut einem Stadtsprecher rund 200 Menschen teil. In Görlitz wurde ein ökumenischer Gedenkgottesdienst gefeiert.


Sächsische Zeitung, 10. November 2010

Dresdner legen Kränze für ermordete Juden nieder

Von Thilo Alexe

Rund 200 Dresdner haben am 9. November vertriebener und deportierter Juden gedacht.

Mitglieder der jüdischen Gemeinde legen einen Kranz zum Gedenken der Opfer der Pogromnacht 1938 nieder. Gegenüber der neuen Synagoge hatten sich rund 200 Menschen versammelt – darunter auch Kunstministerin Sabine von Schorlemer. Foto: Katja Frohberg

„Stellen Sie sich vor, Sie sind acht Jahre alt und werden als Judenschwein beschimpft.“ Dresdens Oberbürgermeisterin Helma Orosz (CDU) hat zu drastischen Worten gegriffen, um der Verfolgung und Ermordung Dresdner Juden zu gedenken. Am 72. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht kamen rund 200 Dresdner an der Gedenkstele für die in Flammen aufgegangene Semper-Synagoge am Hasenberg zusammen. Orosz warb dabei für eine weltoffene Stadt. Zudem verurteilte sie den Brandanschlag auf die jüdische Begräbnishalle in der Johannstadt „auf das Schärfste“. Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Nora Goldenbogen, sagte, die im August verübte Tat sei noch nicht aufgeklärt. Allerdings habe die Gemeinde viel Solidarität aus der Dresdner Bevölkerung erfahren.

One comment

  1. Das geforderte Umdenken in der Dresdner Erinnerungskultur ist ein enorm wichtiger Punkt. Denn es ist nicht nur von historischer Relevanz, an welchen Tagen man wem und ich welchem Umfang gedenkt, und an welchen Tagen nicht, oder zumindest in einem Rahmen der dem Ereignis nicht würdig ist. nein, der Akt des Gedenkens ist auch enorm wichtig für das Selbstverständis einer jeden Gesellschaft. Und wenn am 13.02. jährlich gesammt Dresden in einem Meer des Gedenkens schwimmt (wobei man ehrlich sagen muss-auch hier tut sich was) und am 09.11 viele Bürger und Bürgerinnen noch nicht einmal etwas mit diesem- vielleicht DEM Datum der Deutschen Geschichte (1918,1923,1938,1989)-anzufangen wissen, dann sagt das eben ziemlich viel über das Selbstverständis einer Stadt aus. Aber woher soll dieses Bewusstsein auch kommen? Ich konnte weder am 08. noch am 09. 11 auch nur ein Wort über diese Thematik in der SZ lesen. Und die Veranstaltung an der Synagoge (wobei 200 Teilnehmer für Dresden ja kein \schlechter Schnitt\ sind) wurde so gut wie nirgends \beworben\. Es reicht nicht jedes jahr im Februar darauf hinzuweisen, dass man \nicht vergessen dürfe von wem der Krieg ausging\, man muss diesen Worten auch Taten folgen lassen.